Das unsichtbare Buch
lösen. Viel Glück!‹
Nachdem sich Nasshan herzlich von ihnen verabschiedet hatte, stieß er das Boot vom Ufer ab und verschwand mit kräftigen Ruderschlägen im Morgennebel.
Die beiden warteten still, bis sich der Neben lichtete. Schließlich kamen zwei weißbärtige Männer auf sie zu. Sie hießen sie freundlich willkommen und forderten sie auf, sich zu ihnen unter eine hundertjährige Ulme zu setzen. Hanna erklärte ihnen ruhig den Grund für ihren Besuch, während neben ihnen viele Leute Bücher vorbeitrugen. Dutzende Männer und Frauen erfassten und ordneten sie eifrig. Dann wurden sie in große Holzhütten gebracht und in langen Regalreihen aufbewahrt, bis jemand kommen und sie zum Lesen ausleihen würde. Diese riesige Bibliothek war Teil jenes ruhigen, einsamen Tales.
›Dies ist das Tal der Bücher‹, erklärte einer der bärtigen Männer. ›Hier bewahren wir alle Bücher auf, die wir bekommen können.‹
›Warum tut ihr das?‹, fragte der Page.
›Damit sie nicht verloren gehen‹, antwortete der Alte. ›Und damit alle Welt sie eines Tages lesen kann.‹
›Hier ist das Buch, von dem ich euch erzählt habe‹, sagte die Prinzessin. ›Ich habe es vor Monaten gefunden und brenne darauf, es zu lesen.‹
Der andere nahm das Buch in die Hand, betastete es von allen Seiten und sagte dann nach kurzem Zögern:
›Ja, kein Zweifel! Das ist das unsichtbare Buch, das vor vielen Jahrhunderten im Königreich Navar geschrieben wurde. Wir haben es überall gesucht, konnten es bisher aber nicht finden. Niemand hat es gelesen … Du hast einen kostbaren Schatz gefunden.‹
›Warum ist das Buch unsichtbar?‹, erkundigte sich Sigfrido.
›Das ist nichts Besonderes. Alle Bücher sind unsichtbar, solange sie niemand liest, verstehst du?‹, erklärte der Ältere geduldig. ›Bücher werden sichtbar, wenn siegelesen werden. Danach werden sie in Regale gestellt oder in Schränken aufbewahrt und werden wieder unsichtbar. Wichtig ist nur, dass jemand sie lesen will.‹
›Ja, und dieses hier hatte das Glück, euch zu begegnen‹, fügte der andere hinzu. ›Es wird so lange nicht mehr unsichtbar sein, wie ihr es wollt.‹
Mit diesen Worten zogen sich die beiden Männer zurück und ließen die beiden Freunde mit dem unsichtbaren Buch alleine unter der Ulme zurück. Von weitem beobachteten sie, wie in Hannas Händen ein blaues Buch sichtbar wurde. Staunend schlugen es die Prinzessin und ihr Page auf und … begannen zu lesen.
Mehrere Stunden saßen sie versunken da und genossen die Lektüre bis zur letzten Zeile. Sie vergaßen alles um sich herum, ja, sie vergaßen sogar zu essen. Sie wechselten sich ab, und wenn einer vom lauten Vorlesen ermüdete, fuhr der andere fort. Man konnte fast meinen, sie tranken das Buch, als handele es sich um ein Getränk, das dazu bestimmt war, gemeinsam genossen zu werden; und mit jedem Schluck erschien es ihnen köstlicher.
Als die Sonne unterging, näherten sichdie alten Männer der Ulme, deren Schatten auf die beiden Leser fiel. Hanna und Sigfrido hatten ihre Lektüre beendet.
›Hat es sich gelohnt?‹, fragten sie die jungen Leute.
›Es war das Aufregendste, das ich je erlebt habe‹, antwortete die Prinzessin.
›Ich glaube, wir werden noch mehr unsichtbare Bücher suchen‹, sagte der Page. ›Es muss noch viele geben.‹
›Das ist eine gute Idee‹, erwiderte der Ältere. ›Es gibt tatsächlich viele verlorene Bücher, die nur darauf warten, von jemandem gefunden zu werden.‹
›Dürfen wir hierherkommen, um sie zu lesen?‹, fragte Hanna.
›Selbstverständlich! Ihr wärt uns eine große Hilfe‹, antwortete der andere. ›An diesen Ort kommen Leser aus aller Welt auf der Suche nach Büchern, die kaum bekannt sind.‹
›Dann lassen wir unser Buch am besten hier, in diesem Tal‹, sagte die Prinzessin. ›So können alle es lesen.‹
Die beiden Männer sahen sich lächelnd an. Dann verabschiedeten sie sich von den jungen Leuten.
Am nächsten Tag, kaum dass die Sonneaufgegangen war, machten sich Hanna und Sigfrido auf den Rückweg. Nach mehreren Tagen erreichten sie endlich wieder das Schloss. Der König, der sie schon ungeduldig erwartet hatte, hörte sich ihren Bericht aufmerksam an, und nach reiflicher Überlegung verzieh er ihnen.
Um zu verhindern, dass sie erneut wegliefen, gab er seinen Untertanen den Befehl, unsichtbare Bücher zu suchen und sie Prinzessin Hanna zu bringen.
Er organisierte auch von Soldaten bewachte Entdeckungsreisen ins Tal der
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