Das unsichtbare Buch
wird immer behauptet, Kellner hätten keinen Humor!
Ich lächle ihn dankbar an. Allmählich werde ich ruhiger.
»Nicht nötig«, sage ich und lege die Münzen auf den Bon. »Ich hab genug Geld für zehn Kirschen.«
Das findet er jetzt aber nicht lustig. Erwirft mir einen tödlichen Blick zu, nimmt das Geld und verschwindet.
»Ist was?«, fragt Lucía und setzt sich mir gegenüber. »Du bist ja so blass.«
»Ja, ich bin nervös«, antworte ich so natürlich wie möglich.
»Ich auch«, sagt sie und reibt sich die Hände. »Ich bin ganz aufgeregt.«
»Was hat deine Mutter gesagt?«, erkundige ich mich.
»Nichts. Sie ist nicht zu Hause. Ich habe ihr eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.«
»Ich hoffe, sie wird nicht sauer«, sage ich in besorgtem Ton. »Nicht dass du wegen mir …«
»Red keinen Quatsch und hol die Seiten raus! Ich sterbe vor Neugier.«
Ich lächle ihr zu und mache meine Tasche auf.
»Es sind erst wenige Seiten«, sage ich entschuldigend. »Ich weiß nicht, ob das was bringt …«
»Hör auf mit dem Blödsinn und fang endlich an zu lesen!«
»Soll ich vorlesen?«
»Jeder liest eine Seite. Los, du fängst an.«
Jetzt bin ich wirklich nervös. Wenn ich gewusst hätte, dass ich den Text tatsächlich laut vorlesen muss, dann …
»Los, fang schon an!«, drängt sie mich.
Mir bleibt wohl keine Wahl. Ich muss lesen, also beginne ich: » Das unsichtbare Buch , von César …«
»Ein unglaublicher Titel«, unterbricht mich Lucía.
»Wieso unglaublich?«, frage ich und starre auf die Seite.
»Hast du in deinem Leben jemals ein unsichtbares Buch gesehen?«, fragt sie zurück.
»Na ja … Jetzt, wo du es sagst … Ich glaube, nein.«
»Glaubst du, oder bist du dir sicher?«, fragt sie spöttisch.
»Na ja, also … Ja, ich bin mir sicher. Ich habe noch nie ein unsichtbares Buch gesehen«, sage ich entschieden. »Unsichtbare Bücher gibt es nämlich nicht.«
»Und woher weißt du das, he? Woher weißt du, dass es keine unsichtbaren Bücher gibt, nur weil du noch keins gesehen hast?«
»Ich habe noch keins gesehen, weil es sie nicht gibt«, beharre ich.
»Du hast noch keins gesehen, weil sie unsichtbar sind«, entgegnet sie überzeugt.
»Zwei große Vanilleeis mit viel Schokolade und je einer Kirsche«, sagt der Kellner, als er die Becher vor uns auf den Tisch stellt.
Der Anblick der beeindruckenden Eisbecher verschlägt mir die Sprache. Ich vergesse glatt, »Danke« zu sagen. Aber der Kellner hat mir auch keine Zeit dazu gelassen, so schnell ist er wieder verschwunden.
»Was für Riesenbecher!«, rufe ich begeistert und reiße die Augen weit auf. »Unglaublich! Obwohl … die sind ja sichtbar!«
»Das macht dir wohl Spaß, he?«, fragt Lucía, als wolle sie mir einen Vorwurf machen.
»Sieh mal, die Schokolade, wie sie da runterläuft! Und die Kirschen … Man kann das Eis kaum sehen … Sei ehrlich, so ein unsichtbares Eis hast du noch nie gesehen, oder?«, versuche ich zu scherzen.
Lucía geht nicht darauf ein. Sie sieht mich fast verächtlich an.
»Sollte ein Witz sein … UnsichtbaresEis gibt es nicht. Es gibt überhaupt keine unsichtbaren Dinge«, sage ich und fange an zu essen.
»Du glaubst wohl nur an das, was du siehst«, bemerkt sie leise.
»Und an das, was ich essen kann«, entgegne ich und lasse mir die Schokolade schmecken. »Lecker! Probier mal, dann weißt du, was ich meine.«
»Wenn du nicht an unsichtbare Dinge glaubst, kannst du das Buch gar nicht lesen«, entscheidet sie und nimmt die Seiten in die Hand. »Ich fang schon mal an zu lesen, du bist ja für alles außer Eis blind.«
Das war Rettung in letzter Sekunde! Jetzt werde ich langsam etwas ruhiger.
»Hör gut zu«, sagt sie, »hier kommt die Geschichte:
Vor mehr als eintausend Jahren, im vergessenen Königreich von Navar, schrieb jemand ein unsichtbares Buch. Doch es ging verloren, und so konnte es niemand lesen. Die Jahrhunderte vergingen und das Buch blieb verschwunden, bis alle Welt es vergessen hatte. Vom Wind in die Lüfte erhoben und vom Wasser mitgerissen, durchquerte es unbemerkt das ganze Königreich. Hin und wieder gab ihm jemand aus Versehen einen Tritt, schüttete einen Eimer Wasser über ihm aus oder warf es auf die Straße, wo Pferde darauftrampelten und Kutschen darüberfuhren. Doch das Buch, das aus einem sehr festen Material gemacht war, überstand all diese Widrigkeiten heil und unbeschädigt. «
Sie hört auf zu lesen und seufzt mit verträumtem Lächeln:
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