Das unvollendete Bildnis
Ihnen nie gezeigt.»
Dann wandte sie sich ab und trat ans Fenster.
Während Poirot den Brief vorlas, senkten sich die Schatten der Dämmerung über den Raum. Carla hatte plötzlich das Gefühl, als nehme eine Gestalt Form an, als lausche die Gestalt, atme, warte. Sie dachte: Sie ist hier… meine Mutter ist hier… hier in diesem Raum!
Poirot bemerkte abschließend:
«Sie werden zugeben, meine Herrschaften, dass das ein schöner Brief und gleichzeitig ein sehr bemerkenswerter Brief ist. Etwas geht deutlich daraus hervor: Caroline Crale beteuert darin nicht ihre Unschuld.»
Angela sagte, ohne den Kopf zu wenden:
«Das war überflüssig.»
«Jawohl, Miss Warren, es war überflüssig. Caroline Crale brauchte ihrer Schwester nicht zu sagen, dass sie unschuldig sei, denn sie glaubte, ihre Schwester wüsste das aus einem guten Grund. Caroline Crale ging es nur darum, Angela zu trösten und sie daran zu hindern, ein Geständnis abzulegen. Sie wiederholte wieder und wieder: ‹Es ist alles gut, Liebling, es ist alles gut.»›
«Begreifen Sie denn nicht», unterbrach Angela ihn, «dass sie mich trösten wollte, dass sie um mein Glück besorgt war?»
«Ja, sie war um Ihr Glück besorgt, das ist klar; es war ihre größte Sorge. Sie hat ein Kind, aber sie denkt nicht zuerst an das Kind, das kommt später. Nein, sie denkt nur an ihre Schwester. Ihre Schwester muss getröstet werden, muss ermutigt werden, sie soll ein glückliches, erfolgreiches Leben führen. Und damit die Schwester sich nicht zu schwere Gewissensbisse macht, fügt Caroline noch den aufschlussreichen Satz hinzu: ‹Jeder muss für seine Schuld zahlen.›
Dieser Satz erklärt alles. Er ist ein Hinweis auf die Gewissenslast, die Caroline seit vielen Jahren trug – seitdem sie in einem Wutanfall ihrer kleinen Schwester einen Briefbeschwerer an den Kopf warf und sie dadurch für immer entstellte. Nun erhält Caroline Gelegenheit, ihre Schuld abzutragen. Und Ihnen allen zum Trost sage ich, dass Caroline Crale in dem Bewusstsein, ihre Schuld getilgt zu haben, einen Frieden und eine Heiterkeit empfand, wie sie sie seit vielen Jahren nicht mehr empfunden hatte. Das ist der Grund, weshalb ihr die Verhandlung und die Verurteilung nichts ausmachten. Es ist seltsam, so etwas von einer zum Tode verurteilten Mörderin zu sagen: Das Urteil machte sie glücklich. Diesen scheinbaren Widerspruch will ich Ihnen jetzt erklären, indem ich die Ereignisse von Carolines Gesichtspunkt aus erläutere.
Zunächst einmal geschieht am Vorabend des verhängnisvollen Tages etwas, was sie an ihre jugendliche Untat erinnert: Angela wirft einen Briefbeschwerer nach Amyas Crale. Dasselbe hatte sie, Caroline, vor vielen Jahren getan. Und Angela wünscht mit lauter Stimme Amyas den Tod. Am nächsten Morgen kommt Caroline ins Treibhaus und überrascht dort Angela, die an einer Bierflasche herumhantiert. Miss Williams sagte in ihrem Bericht: ‹Angela war dort und sah schuldbewusst aus.› Miss Williams glaubte, sie habe ein schlechtes Gewissen, weil sie am Morgen durchgebrannt war, aber Caroline legte Angelas Schuldbewusstsein anders aus. Denken Sie daran, meine Herrschaften, dass Angela früher einmal Amyas etwas ins Bier geschüttet hatte. Es konnte ja leicht sein, dass sie das wiederholte.
Caroline nimmt die Flasche, die Angela ihr gibt, und bringt sie zur Schanze. Dort schenkt sie das Bier ein, gibt es Amyas, der es trinkt, eine Grimasse schneidet und die aufschlussreichen Worte sagt. ‹Heute schmeckt alles miserabel.›
Caroline schöpft natürlich keinen Verdacht. Doch als sie nach dem Essen zur Schanze kommt und ihren Mann tot vorfindet, zweifelt sie keinen Augenblick daran, dass er vergiftet worden ist. Sie hat es nicht getan. Wer dann? Die Gedanken stürmen auf sie ein: Angelas Drohung, Angelas schuldbewusstes Gesicht, als sie mit der Bierflasche in der Hand überrascht wurde… schuldig… schuldig… Warum hat das Kind das getan? Aus Rache? Vielleicht wollte sie ihn gar nicht töten, sondern wollte nur, dass ihm übel wird. Oder hatte sie es nur für sie, für Caroline getan? War ihr klar geworden, dass Amyas ihre Schwester verlassen wollte? Caroline erinnert sich nur zu gut – wie gut! – an ihre eigenen Wutausbrüche, als sie in Angelas Alter war.
Und sie ist nur von einem Gedanken beherrscht: Wie kann ich Angela schützen? Angela hat die Flasche in der Hand gehabt, Angelas Fingerabdrücke werden darauf sein. Rasch wischt sie die Flasche ab. Es muss der Eindruck
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