Das unvollendete Bildnis
dass Sie es wirklich hineintaten.»
«Nein, denn ich habe es nie getan. Caroline kam gerade dazu, als ich die Flasche aufmachen wollte… Mein Gott! Und Caroline glaubte… sie glaubte, dass ich es getan hätte…»
Sie hielt inne, blickte alle an und sagte in ihrem üblichen, gelassenen Ton:
«Ich vermute, dass auch ihr das glaubt! Ich habe Amyas nicht getötet! Weder durch einen mutwilligen Streich noch sonst wie. Hätte ich es getan, würde ich es gestanden haben.»
Miss Williams sagte scharf: «Natürlich hätten Sie es gestanden, mein Kind.» Mit einem wütenden Blick auf Hercule Poirot fügte sie hinzu: «Nur ein Narr kann so etwas denken!»
Freundlich erwiderte Poirot:
«Ich bin kein Narr und denke es auch nicht. Ich weiß sehr genau, wer Amyas Crale getötet hat.»
Er machte eine Pause.
«Man nimmt immer zu leicht Tatsachen als gegeben hin, die es in keiner Weise sind. Betrachten wir einmal die Lage in Alderbury. Die alte Geschichte: zwei Frauen und ein Mann. Wir haben es als gegeben hingenommen, dass Amyas Crale seine Frau um einer anderen willen verlassen wollte. Aber ich behaupte, dass er das nie beabsichtigt hatte. Er hatte sich ja schon vorher häufig in Frauen verliebt, aber seine Verliebtheit hielt nie lange an. Die meisten Frauen, in die er sich verliebte, besaßen Erfahrung, sie erwarteten nicht zu viel von ihm. Aber diesmal war es anders. Die Frau, in die er sich diesmal verliebt hatte, war keine erfahrene Frau, sie war ein Mädchen, sie war, wie Caroline Crale sich ausdrückte, erschreckend aufrichtig. Sie mag kaltschnäuzig und herausfordernd in ihrem Benehmen, in ihrer Sprache gewesen sein, aber die Liebe nahm sie erschreckend ernst. Da sie von einer tiefen Leidenschaft für Amyas erfüllt war, glaubte sie, dass er die gleiche Leidenschaft für sie empfinde. Sie nahm es als selbstverständlich an, dass es sich um eine Liebe fürs ganze Leben handle, deshalb fragte sie ihn auch gar nicht, ob er seine Frau verlassen werde. Sie werden vielleicht einwenden, es sei unverständlich, dass Amyas Crale ihr nicht reinen Wein eingeschenkt habe. Ja, warum tat er es nicht?… Wegen des Bildes! Er wollte das Bild fertig malen.
Das wird vielen unglaublich vorkommen, nicht aber Menschen, die Künstler kennen. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Unterhaltung zwischen Crale und Meredith Blake verständlicher. Crale ist verlegen, er klopft Blake auf die Schulter, versichert ihm, dass alles schon wieder in Ordnung kommen werde. Für Amyas Crale ist alles einfach. Er malt ein Bild, wird dabei gestört durch zwei ‹eifersüchtige, hysterische Weiber› – wie er sich ausdrückte –, will sich aber von keinem Menschen bei dem stören lassen, was für ihn das Wichtigste im Leben ist.
Würde er Elsa jetzt die Wahrheit sagen, wäre es um das Bild geschehen. Vielleicht hatte er in der ersten Leidenschaft sogar davon gesprochen, Caroline zu verlassen; Männer sagen gern so etwas, wenn sie verliebt sind. Vielleicht ließ er sie auch in dem Glauben; er kümmert sich einfach nicht viel darum, was Elsa glaubt – sie soll denken, was sie will. Für ihn ist die Hauptsache, dass sie noch ein, zwei Tage bei der Stange bleibt. Dann wird er ihr die Wahrheit sagen, wird ihr sagen, dass zwischen ihnen alles aus ist. Er belastete sich ja nie mit Skrupeln.
Als er Elsa kennen lernte, wollte er sich nicht mit ihr einlassen, er warnte sie, sagte ihr, was für ein Mann er sei, aber sie wollte ja nicht auf ihn hören. Sie rannte in ihr Verderben. Für Crale waren Frauen Freiwild. Hätte man ihn zur Rede gestellt, würde er leichthin geantwortet haben, Elsa sei ein junges Mädchen und würde bald darüber hinwegkommen. Das war Amyas Crales Einstellung.
Der einzige Mensch, der ihm wirklich etwas bedeutete, war seine Frau; auch wenn er nicht viel Rücksicht auf sie nahm. Im Falle Elsa Greer sollte sie nur noch ein paar Tage Geduld haben. Er war wütend, dass Elsa Caroline die Szene gemacht hatte, aber sorglos, wie er war, glaubte er, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Caroline würde ihm verzeihen, wie sie es schon so oft getan hatte, und Elsa müsste es eben ‹schlucken›. So einfach sind die Probleme des Lebens für einen Menschen wie Amyas Crale.
Am letzten Tag machte er sich aber wirklich Sorgen – wegen Caroline, nicht wegen Elsa. Vielleicht war er in Carolines Schlafzimmer gegangen, und sie hatte sich geweigert, mit ihm zu sprechen. Jedenfalls nahm er sie nach dem Frühstück beiseite und sagte ihr die
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