Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Kind

Das verborgene Kind

Titel: Das verborgene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Willett
Vom Netzwerk:
davor, nach London zurückfahren und ihren Freundinnen gestehen zu müssen, dass sie bei Matt nicht weitergekommen war. Während sie die Teller einsammelte, grübelte sie über die letzten vierundzwanzig Stunden nach. Erst einmal war sie nicht darauf gefasst gewesen, dass diese grauenhafte Venetia zum Inventar von High House gehörte. Die alte Hexe machte sie nervös. Es war, als ob Venetia sie durchschaute. Lottie und Milo hingegen waren ganz nett und gaben ihr das Gefühl, willkommen zu sein. Allerdings nicht als Matts Freundin, nicht so, als wäre sie für ihn etwas Besonderes .
    Und dann war es eine ziemlich große – und unangenehme – Überraschung gewesen, dass Matts kleines Haus sozusagen gleich nebenan lag. Sein Garten ging in den von High House über, und zwischen beiden Anwesen herrschte ein freundschaftliches Hin und Her. Natürlich war das Cottage sehr, sehr hübsch und eine tolle Zugabe zu der schicken Londoner Wohnung. Annabel wäre durchaus bereit, sich dafür mit der Nähe zu seinen Verwandten zu arrangieren. Als Schlupfwinkel oder Wochenendhaus war es einfach perfekt. Aber trotzdem biss sie bei Matt immer noch auf Granit. Er behandelte sie, als wäre sie nur eine Freundin unter vielen; daran war nichts Persönliches, Intimes. Anscheinend hatte er ein paar Beziehungen gehabt, von denen keine besonders langlebig gewesen war, und sie hatte gehört, dass beide Mädchen sehr traurig gewesen waren, als er Schluss mit ihnen gemacht hatte. Vielleicht war er seit Epiphanie misstrauisch und befürchtete, alle Frauen seien hinter seinem Geld her.
    Annabel beschloss, einfach um ihn zu sein, bis sie Matts Vertrauen gewonnen hatte. Aufs Warten verstand sie sich gut. Nun fuhren sie zu seiner Schwester mit dem lästigen Kind; und als ob das nicht reichte, war da auch noch der Welpe. Um die Wahrheit zu sagen, war sie wirklich keine Tierfreundin, aber sie konnte eine gute Show abziehen, wenn es sein musste, so wie bei Pud und dem elenden Kater. Es gab nichts Schlimmeres als den Gestank von Katzen im Haus – abgesehen von Hundehaaren überall. Sollte sich doch endlich etwas tun, müsste sie wegen des Katers vielleicht etwas unternehmen. Sie wünschte, Matt käme nach London zurück. Das war viel eher ihr Revier, und seine Wohnung gefiel ihr sehr.
    Das Einpacken war erledigt, und der Wagen holperte den Feldweg hinunter bis zur Straße. Das Rotkehlchen hüpfte aus dem schützenden Stechginster herbei und pickte die letzten Krümel auf.
    »Es war ein bisschen komisch«, sagte Im. »Ich muss immer an Mum denken und wünschte, ich wäre ein wenig, nun ja, netter zu ihr gewesen. Sollte Rosie etwas passieren, würde ich den Verstand verlieren. Er muss damals ungefähr so alt gewesen sein wie Rosie jetzt, oder, Matt?«
    Sie standen zusammen an den hohen Türen, die in den Garten führten, und beobachteten, wie Annabel mit Rosie und Dodger spielte.
    »Warum sagst du das?«, wollte Matt wissen. Er brauchte nicht zu fragen, wer dieser »er« war.
    »Weil du in einem Alter warst, in dem du dich an manches erinnerst und an anderes nicht. Du weißt seinen Namen nicht mehr, aber du erinnerst dich, gesehen zu haben, wie Mum mit euch beiden gespielt und gelacht hat. Und natürlich hat nachher niemand mehr von ihm gesprochen, sodass er nie in die Familiengeschichte eingegangen ist. Unter diesen Umständen kann deine Erinnerung nur lückenhaft sein. Meiner Ansicht nach kannst du allerhöchstens achtzehn Monate alt gewesen sein. Ein ganz großer Anteil unserer frühesten Erinnerungen mischt sich mit dem, was andere Menschen uns erzählen. Dieses Hörensagen festigt Dinge, an die wir uns erinnern, bringt sozusagen Fleisch auf das nackte Gerippe der Erinnerung und baut Bilder in unserem Inneren auf. Aber du hattest nichts davon. Die arme Mum! Ich glaubte immer, dass es nur um Dad ging und dass sie sich uns zuliebe ein wenig zusammenreißen sollte. Denk an all die jungen Kriegerwitwen! Ich weiß, dass manche von ihnen auch ihre Söhne verloren haben und trotzdem zurechtgekommen sind, ohne sich zu Tode zu trinken. Aber ich wünschte trotzdem, ich hätte es gewusst.«
    »Die Sache ist die«, sagte Matt nach kurzem Schweigen, »dass wir auch dann vielleicht nicht die Geduld aufgebracht hätten. Vielleicht muss man selbst ein Kind haben, um zu verstehen, was sie durchgemacht hat.«
    »Vielleicht.«
    Schweigend standen sie da. Im hielt ein Spielzeug in der Hand: eine grellbunt bemalte russische Puppe, die sie, den Blick immer noch auf Rosie

Weitere Kostenlose Bücher