Das verborgene Kind
1. Kapitel
D er Stapel mit den Fotos lag unten in der Rosenholzschatulle. Flüchtig blätterte er ihn durch, wobei er sich wunderte, dass jedes Foto ihn selbst zeigte – eine dreißig Jahre umfassende fotografische Chronik. Dann legte er die Bilder wieder hinein. Das massive Kästchen mit den hübschen goldenen Intarsien beherbergte nicht nur die kleinen Schätze seiner Mutter, sondern auch eine Menge Familiengeschichte. Es hatte einmal seiner Großmutter väterlicherseits gehört und stellte daher eine besondere Verbindung zu seinem Vater dar, an den er sich kaum erinnern konnte. Dabei hatte er die Erinnerungen an diese schattenhafte Gestalt wie seinen Augapfel gehütet und durch ein Dutzend winziger Details, die er in Gesprächen unter Freunden und Familienmitgliedern aufgeschnappt hatte, angereichert und aufgefrischt.
»Natürlich kannst du dich nicht an ihn erinnern«, pflegte er zu seiner kleinen Schwester Imogen zu sagen. »Als Daddy gestorben ist, warst du noch ein Baby.«
Imogen machte sich nichts daraus. Im, wie sie genannt wurde, war von Natur aus ein glücklicher, selbstsicherer Charakter, weshalb es ihm fast nie gelang, sich ihr überlegen zu fühlen. Bei solchen Gelegenheiten schüttelte sie fröhlich den Kopf, vollkommen versöhnt damit, dass er derjenige war, der Bescheid wusste. Auch die Schatulle war für sie nicht von Bedeutung. Die kleinen Schätze, die er – unter Aufsicht seiner Mutter – in das zart duftende Innere legen durfte, waren zu empfindlich für ihre kleinen, ungeschickten Finger: eine perfekte Muschel, ein empfindliches dunkelrotes Blatt, eine glänzende, makellose Kastanie.
»Sollen wir es in das Kästchen legen, Mummy?«, hatte er immer gerufen, wenn er zu seiner Mutter gerannt kam, um ihr diese Geschenke zu bringen, und dann schaute er zu, wie sie diese Zeremonie vollzog: Die Schatulle wurde vom Schrankbrett genommen, der Schlüssel hervorgeholt, in das goldene Schloss gesteckt und der Deckel geöffnet. Eifrig beugte er sich vor, um den vertrauten Inhalt zu betrachten. Wenn er saubere Hände hatte, durfte er das Seidentaschentuch auseinanderfalten, das von seiner Großmutter stammte und in einem bestickten, nach Lavendel duftenden Täschchen aus weichem Wildleder aufbewahrt wurde; oder er durfte den Brief herausnehmen, den sein Vater ihm aus dem fernen Afghanistan geschrieben hatte, und das Foto ansehen, das er geschickt hatte. Der Brief, den seine Mutter ihm dann vorlas, schenkte ihm stets ein Gefühl von Stolz und Stärke; darin bat sein Vater ihn, ein guter Junge zu sein und auf seine Mutter und seine kleine Schwester aufzupassen. Sie betrachteten gemeinsam das Foto, von dem sein Vater ihnen zulächelte, der in einer staubigen, ausgedörrten Landschaft stand. Aber sein größtes Vergnügen war es, mit der geschnitzten und bemalten Holzkatze zu spielen, die sich wie eine russische Matroschka-Puppe in zwei Hälften auseinandernehmen ließ, aus denen eine kleinere Katze zum Vorschein kam und dann noch eine, bis zur letzten Figur, die eine entzückende Überraschung barg: eine winzige Maus. Die Katzen hatten schelmische Mienen, und sogar die Maus schien mit ihrem Los zufrieden zu sein, denn ihre aufgemalten Schnurrhaare krausten sich munter, und sie zwinkerte mit einem Auge.
Als er älter wurde, verblasste der Zauber nach und nach, bis er die Schatulle vollkommen vergaß. Sie war nur noch einer der vertrauten Gegenstände, die mit ihnen aus dem kleinen Haus in Finchley in die große Erdgeschosswohnung in Blackheath umgezogen waren und ihre Mutter schließlich ins Pflegeheim begleitet hatten.
Nun gehörte die Schatulle mitsamt Inhalt ihm; auch der Stapel Fotos, der wahrscheinlich erst in letzter Zeit zusammengestellt und hineingelegt worden war. Seufzend schob Matt das Kästchen und die Bilder weg. Dass keine Aufnahme von Imogen dabei war, erschien ihm sonderbar. Es würde sie vielleicht verletzen. Aber seine Schwester musste es ja nicht erfahren. Sie hatten ihrer Mutter schon lange nicht mehr nahegestanden – zuerst bedingt durch deren langsamen Abstieg in die Depression und den Alkoholismus und schließlich durch deren Leberkrankheit –, sodass es Imogen vermutlich nicht treffen würde. Beide Geschwister hatten sich so sehr an die abrupten Stimmungswechsel und das irrationale Verhalten ihrer Mutter gewöhnt, dass deren Handlungen sie nicht mehr besonders berührten. Trotzdem würde er Im nichts davon erzählen.
Matt nahm den Fotostapel noch einmal aus der Schatulle und
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