Das verborgene Wort
Heinzelmännchen, der schönen Lo- reley und dem wilden Wassermann.
Aber Großvater hatte seine Geschichten nur im Kopf. Aniana im Buch. So wie der Pastor ein Buch hatte am Altar. Eine Messe lesen hieß es ja auch. Ein Buch lesen. Aniana konnte lesen. Die merkwürdigen schwarzen Kräuselzeichen in Wörter verwandeln, in Sätze und Geschichten. Das konnte der Großvater nicht. Er konnte viel erzählen. Aber nichts beweisen. Er hatte nichts schwarz auf weiß.
Ich stahl mich dem Großvater aus dem Arm, ließ ihn mit dem schlummernden Bruder bei der Weide zurück, strolchte am Ufer entlang und stocherte mit der Schuhspitze, unbekümmert um Kratzer und weiße Ränder, zwischen den Steinen. In der Ferne verschwand ein Kahn, ein paar Möwen lagen in der Nachmittagswärme schlafend auf dem Wasser.
Auch zu Hause gab es ein Buch, das Heiligenbuch. Es war fast so heilig wie das Kreuz, das der Großvater mit der Laubsäge aus Sperrholz geschnitten hatte. Das Kreuz mit dem düsteren, bleiernen Heilandskörper hing in einer Ecke der Küche. Das Heiligenbuch stand darunter, neben dem ewigen Licht, einem Öllämpchen, das freitags um drei, zur Sterbestunde Jesu, angezündet und am Sonntagabend wieder ausgedrückt wurde. Niemand rührte das Buch an.
Als ich gegen den Stein trat, zuckte es durch den Zeh das Schienbein hinauf: Er hatte eine tiefe Schramme in meinen Schuh geritzt. Der Stein gehörte zur Strafe in den Rhein. Ich holte aus. Aufgeschreckt durch die jähe Bewegung, stoben Möwen auf, etwas traf warm und weiß meine Hand, den Stein. Wenns vom Vogel am Himmel auf dich fällt, bringt das mehr Glück als jeder Schornsteinfeger! Ich starrte auf meine Hand, den Stein, Hand und Stein durch gräulichen Schleim miteinander verbunden. Tauchte den Stein in die Wellen. Durch sein unscheinbares, stumpfes Grau schlängelten sich feine weiße Linien, immer wieder unterbrochen, ineinander verschlungen, sich kreuzend: Der Stein war beschrieben! Beinah wie auf den Linien im Schreibheft der Cousinen, fast so gerade wie die Zeilen in Anianas Buch.
Ich glaubte an das Jesulein in der Krippe, an Jesus am Kreuz,an Jesus, auferstanden von den Toten, an die Müllerstochter, die Stroh zu Gold spinnen konnte, den Froschkönig, der sich in einen Prinzen, die Hexe, die sich in einen Drachen verwandeln konnte. Glaubte an Engel und Teufel wie an Onkel und Tanten. Der Stein war ein Wunder. Einer hatte diesen Stein in ein Buch verwandelt. Jedenfalls beinahe. Opa, lur ens :: ", wat steht do?
Mit einem knarrenden Schnarchlaut fuhr der Großvater hoch. Schlaftrunken riß der Bruder die Augen auf und drehte sich zur Seite.
Opa, wat steht do? Ich hielt den Stein in der Linken, mein rechter Zeigefinger klopfte auf die Äderung.
Wat do steht? Der Großvater holte sein Brillenetui aus der inneren Rocktasche, setzte die Brille auf, wie er es sonntags zum Studium des Kolpingblattes tat, benetzte seinen Zeigefinger mit Spucke und fuhr die hellen Linien entlang, daß sie feucht aufglänzten aus dem matten Grau. Er bewegte den Kopf, die Augen von links nach rechts, und räusperte sich, wie der Pastor auf der Kanzel, bevor er das Evangelium las.
Tja, sagte der Großvater und sah mich an. Seine Augen schimmerten in einem Kreis feiner Fältchen grau und grün wie die Blätter der Weiden. Do has de dir wat janz Besonderes usjesöökt. Dat he es ene Boochsteen. Ein Buchstein.
Es gab einmal, erklärte der Großvater, einen Stein, der alles verwandelt. Er leuchtete im Dunkeln und im Hellen. Als er aber vom Himmel auf die Erde gefallen sei, vor vielen Millionen Jahren, gleich nachdem Gott Himmel und Erde erschaffen habe, seien tausend und abertausend Steinchen abgesplittert und hätten sich über unsere Welt verstreut. Sie alle enthielten nun winzige Bruchteile dieses Himmelssteins. Dies seien die Buchsteine, de Boochsteen. Wer diese Splitter finde, sei selbst ein Licht und leuchte in der Welt. Sei gut und schön und ein Mensch, den alle lieben. Schon das kleinste Teilchen des Steins mache die Menschen selber gut und schön.
Un wer hat die beschrevve? fragte ich.
Großvater war, während er die Geschichte vom Himmelsstein erzählt hatte, von der Weide weg an den Rhein gegangen. Seine
* schau mal
Augen hatten die Farbe des Stroms angenommen, grau und blau strahlten sie aus ihrem Faltenkranz.
Na, wat jlövs du dann?
Dä, dä leeve Jott? fragte ich stockend. Von ihm kam ja alles, was mir begegnete, mich umgab, und eine Zeit lang hatte ich gar nicht genug
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