Renner & Kersting 02 - Mordswut
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An diesem Dienstag hatte Helga Renner es nach der vierten Unterrichtsstunde besonders eilig, ins Lehrerzimmer zu kommen. In wenigen Tagen würde ihre Kollegin Andrea Michalsen heiraten, und das gesamte Kollegium wollte die Trauung miterleben, um anschließend vor der Kirche Spalier zu stehen. Doch bisher hatte der Rektor sich standhaft geweigert, für dieses Ereignis Unterricht ausfallen zu lassen. Es wurde höchste Zeit, einmal in Ruhe mit ihm und möglichst vielen Kolleginnen darüber zu reden. Die Konrektorin, Elli Goppel, hatte gestern jede Einzelne verdonnert, in der zweiten Pause umgehend das Lehrerzimmer aufzusuchen. Das war durchaus nicht selbstverständlich, da die Raucher bei schönem Wetter einen Teil der Pause vor der Tür zubrachten, andere den Kopierer im Lehrmittelraum beschäftigten oder noch in ihren Klassen für Ordnung sorgten. Die meisten Teilzeitkräfte verließen die Schule sofort nach Dienstschluss oder erschienen erst kurz vor Unterrichtsbeginn. Die Hochzeit interessierte jedoch alle, und so wollte man den Rektor auch gemeinsam überzeugen. Darum schickte Helga ihre Kinder bereits kurz vor dem Schellen hinaus auf den Hof. Wie üblich dauerte es eine ganze Weile, bis endlich der letzte sein Brot herausgekramt und den Raum verlassen hatte. Nervös blickte sie auf die Uhr und bemerkte, dass von den fünfzehn Minuten Pause bereits vier um waren. Sie verzichtete auf das Abschließen der Tür und wollte gerade Richtung Lehrerzimmer entschwinden, als hinter ihr jemand blökte: „Sie sind doch diese Frau Renner, nä?«
Unwillig drehte sie sich um. Sie mochte es nicht, von hinten angerufen zu werden und dazu noch in einem solchen Ton. Außerdem hatte sie es wirklich eilig. Da sie jedoch nicht unhöflich sein wollte, zog sie eine Augenbraue hoch und gab ein fragendes „Ja, bitte“, von sich. Ein Blick genügte, um festzustellen, dass der Mann weder zu den Verlagsvertretern gehörte, die häufiger auftauchten noch ein Handwerker oder Lieferant sein konnte. Obwohl sie sich immer wieder vornahm, den Eltern der Schüler offen und vorurteilsfrei gegenüber zu treten, fiel es ihr bei dem Mann schwer, gehörte er doch zu der Sorte, mit der es fast regelmäßig Ärger gab. Muskelbepackt, an den Armen tätowiert, nicht ganz so breit wie lang, Stiernacken und Dreitagebart, ein Hemd mit Blick auf Goldkettchen, Bierbauch und Jeans, die nach der Waschmaschine schrieen, stand er da, breitbeinig, eine Hand in der Hüfte, den Kopf zurückgeworfen, eine einzige Herausforderung. Sie verspürte absolut keine Lust, sich mit ihm zu befassen. Da der Unbekannte sie unverschämt musterte, ohne sein Anliegen zu nennen, fragte sie schließlich ungnädig: „Was ist los? Was wollen Sie?“
Aus dem blaurot geäderten Säufergesicht traf sie ein lauernder Blick. „Niklas Vogtmeier, dieser Wichser, is der in Ihrer Klasse?“
Zwar hatte sie Niklas’ Vater noch nie gesehen, doch dieser Besucher war es offensichtlich nicht. Helga warf einen sehnsuchtsvollen Blick Richtung Lehrerzimmer. Sie konnte sich nicht vorstellen, was der Mann von ihr oder Niklas wollte.
„Ja, und?“
„Und? Dat gibtet doch wohl nich, dasse keine Ahnung ham!“ Mit vorgestrecktem Kopf ging er auf sie zu. „Der Scheißer hat meine Tochter sexuell missbraucht und Sie fragen einfach ›Und?‹. Sie sind wohl nich bei Trost! Eine Unverschämtheit ist das! Einfach unglaublich, was sich die Lehrer hier leisten.“ Er schien zu explodieren. Seine Stimme wurde lauter und dröhnte schließlich durch den leeren Flur. „Dieser ... dieses miese Arschloch ist über meine Pia-Maria hergefallen, und was tun Se? Stehen dumm rum und fragen ›Und?‹! Was anderes fällt Ihnen wohl nich ein, wie? Mein ames Mädchen traut sich nich inne Schule, weil der Wichser noch frei rumläuft. Jeden Tag heult se vor Angst. Und was tun Sie? Nix, ainfach gah nix. Unverschämtheit! Eine bodenlose Frechheit! Sie sind Lehrerin. Iss doch woll Ihr Job, meine Tochter vor solchen Verbrechern zu schützen. Und Sie stehen hier rum und fragen blöde ›Und?‹ Nich zu fassen!“ Er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, das feiste Gesicht nahm die Farbe überreifer Tomaten an, und seitlich am Hals pochte eine dicke Ader.
„Nun mal langsam. Beruhigen Sie sich erst einmal.“
Das war genau die falsche Antwort.
„Beruhigen? Ich soll mich beruhigen? Wenn de Lehrer wegkucken, wenn ne Schülerin vergewaltigt wird? Das hat Folgen, das sach ich Ihnen. Ich werd mich beschwern.
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