Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
mit welcher Farbe sie geboren wurden.«
Die Schuppen dieses Drachen leuchteten hellgrün. Seine Augen waren rot wie alle Drachenaugen, doch das orangefarbene Glitzern darin zeugte von jugendlichem Ungestüm, von einem tollkühnen Heißsporn. Der stachelige Mähnenkamm wies eine dunklere Schattierung auf, die ins Türkis hinüberging. Die Flügel konnte Melisande nicht mehr erkennen, weil sein Kopf die ganze Schale ausfüllte, doch sie erinnerte sich, dass sie hellgrün und ledrig gewesen waren, wie die einer Fledermaus. Das Ungeheuer hatte vier Beine. Die Vorderbeine waren kürzer und wurden ähnlich wie Menschenarme verwendet. Mit den kräftigen, längeren Hinterläufen stieß ein Drache sich beim Start ab, um seinen schweren Körper in die Luft zu heben. Der Schwanz war lang, ebenso lang wie der Körper. Am Boden stabilisierte er den Drachen, im Flug diente er als Ruder. Der Mähnenkamm verlief bis zur Schwanzspitze.
Der schmale Reptilienkopf des Drachen wirkte geradezu graziös. Der dunklere Kamm ragte in spitzem Winkel bis zwischen die Augen hinunter, wo er allmählich in die helleren, grün glänzenden Schuppen überging, die Maul und Kiefer überzogen. Vier Reißzähne ragten aus dem Maul heraus, zwei oben, zwei unten. Der Rest seiner scharfen Zähne war nicht zu sehen.
Melisande erhob sich. Sie nahm die Schönheit des Drachen nicht mehr wahr, sondern sah nur noch seine mitleidlose Grausamkeit, die sich nicht um Menschenleben scherte. Ganz ohne Zweifel wollte dieser Drache Seth angreifen, das einzige Königreich, das es wagte, sich den Drachen zu widersetzen, die den Rest der Welt in Angst und Schrecken versetzten. Die Meisterin hatte ihnen erklärt, dass nur Seth ihnen noch trotzte. In ihrem abgelegenen Tal schotteten sich die Bewohner von Seth vom Rest der Welt ab und ließen niemanden in ihr Reich ein.
»Denn wenn die übrigen Menschen der Drachenwelt erfahren, dass wir in Seth in Frieden und Wohlstand leben, würden sie zu Tausenden hierher strömen. Wir würden alles verlieren, worum wir so lange gekämpft haben.«
Nachdem ihr Ärger die Furcht verdrängt hatte, verließ Melisande das Auge. Sie wusste alles, was es zu wissen gab. Der Drache war auf eine Schlacht aus. Diesmal war sie so gefasst, dass sie sogar ihre Schuhe mitnahm. Dann rannte sie ins Kloster zurück wie eine junge Kriegerin, die in die erste Schlacht zieht.
Als die Frauen auf der Mauer sie sahen, wollten sie sogleich wissen, ob der Drache käme. Wütend über diese Disziplinlosigkeit brachte Bellona sie mit einem herrischen Ruf zum Schweigen. Melisande trat durch die Pforte und lief über den Hof. An dem großen Eisengong standen zwei Soldatinnen bereit.
»Schlagt Alarm«, wies Melisande sie an. Als die ersten dröhnenden Töne durch das Tal hallten, klapperten die Kriegerinnen jubelnd mit ihren Speeren auf ihren Schilden.
Melisande warf einen kurzen Blick auf Bellona, die auf der Mauer auf und ab schritt. Sie feuerte die Frauen an, tapfer zu kämpfen, glorreich zu sterben und weitere Schuppen für die Steinschalen zu erringen.
Bei den Worten »glorreich sterben« stockte Melisande der Atem. Plötzlich verspürte sie Angst – nicht um sich, sondern um Bellona. Melisande war nie auf den Gedanken gekommen, dass sie ihre Geliebte verlieren könnte. Jetzt wusste sie, dass diese Möglichkeit nur allzu real war. Wenn die Magie versagte und der Drache seinen Angriff fortsetzte, würde Bellona ganz vorne stehen, als Erste angreifen, als Erste fallen.
»Heilige Meisterin, lass es nicht so weit kommen«, betete Melisande.
Mit neuer Entschlossenheit stürmte sie zum Heiligtum.
Die Bronzetüren des Nordflügels standen offen. Sie waren unbewacht. Die Meisterin hatte alle Kriegerinnen auf die Mauern befohlen, um das Kloster zu verteidigen. Die Schwestern würden inzwischen im Heiligtum die machtvollen Zauber vorbereiten, mit denen sie den Drachen bekämpfen wollten.
Ohne Rücksicht auf Förmlichkeit und Respekt lief Melisande durch den dunklen Korridor. Die Tür zum Heiligtum des Auges lag neben den Gemächern der Meisterin, damit diese es jederzeit betreten konnte. Normalerweise war die Tür verschlossen. Nur die Meisterin besaß den Schlüssel. Heute aber stand sie offen. Das Licht des Feuers erhellte den Gang und beleuchtete die bösartigen Fratzen der gemalten Drachen an den Wänden.
Nachdem Melisande die Tür durchschritten hatte, stieg sie eine lange Steintreppe hinunter und rannte dann einen anderen Korridor entlang, der tief in
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