Das verdrehte Leben der Amélie, 3: Sommerliebe (German Edition)
Erwachsenen in meiner Umgebung haben alle ein Problem mit logischem Denken …) Das Einzige, was ich bei meiner Großmutter brauche, ist ein Internetanschluss.
Seit mein Vater tot ist, habe ich meine Großmutter nur noch selten gesehen. Bei der Beerdigung hat sie meiner Mutter ihre Hilfe angeboten, doch die hat sich mehr an ihre eigene Familie gehalten. Aber sie fand es immer wichtig, dass wir meine Großmutter wenigstens ein- oder zweimal im Jahr besuchen. Weil ich die einzige Person bin, die meine Großmutter an meinen Vater erinnert, da mein Großvater schon vor Jahren gestorben ist und sie keine weiteren Kinder hat.
Abgesehen von ihren Pfannkuchen, die die besten im Universum sind, habe ich keinen besonderen Draht zu ihr. Ich weiß nie, worüber ich mit ihr reden soll. Wenn meine Mutter da ist, geht es noch. Aber ein ganzer Sommer mit ihr allein, uff! Ich will es mir gar nicht vorstellen. Das stresst mich total.
13:15
Trotz dieses minimalen Stressfaktors finde ich es, wie gesagt, super, dass meine Mutter nach Frankreich reist. Den ganzen Sommer lang. Mit ihrem Freund. Der gleichzeitig ihr Chef ist. Sie werden sich dort auch mit möglichen Geschäftspartnern treffen. Also ist das Ganze auch noch super für ihre Karriere und so.
13:16
O.k., o.k. Ich finde das alles gar nicht »super«. Sagen wir mal, ich finde es in Ordnung.
13:17
»In Ordnung« trifft es vielleicht nicht ganz. Ich finde es … ein Synonym von »in Ordnung«, das etwas weniger positiv ist (falls ein solches Wort existiert).
13:18
Zum Kotzen?
Top-Secret-Vermerk an mich selbst: Ich habe immerhin noch zwei Monate Zeit, um meiner Mutter zu beweisen, dass François Blais der Teufel ist, für den ich ihn halte. Dann wird sie die Reise absagen. Und den Sommer mit mir verbringen. Vielleicht in einem kleinen Häuschen an einem See oder etwas in der Art.
Vermerk an mich selbst Nr. 2: Wenn das nicht klappt, besteht noch die Möglichkeit, dass sie die Reise abbrechen müssen, weil ich bei meiner Großmutter in Lebensgefahr gerate … wegen Passivrauchens. Meine Großmutter qualmt wie Lucky Luke, bevor er den Strohhalm entdeckte!
13:50
Autsch! Ich war so in Gedanken, dass mich ein Ball fest gegen den Arm getroffen hat. Das ist das Problem mit Völkerball im Sportunterricht: Man kann einfach nicht in Ruhe seinen Gedanken nachhängen. Man muss die ganze Zeit aufpassen.
Es zwiebelt und ich reibe mir den Arm.
Die Sportlehrerin bläst in ihre Pfeife und sagt (das Echo der Turnhalle verstärkt ihre Stimme so, dass alle sie hören): »Musst du ins Krankenzimmer, Amélie?«
Ich: »Nein … geht schon.«
Frage medizinischer Natur: Hat die Schulkrankenschwester auch ein Mittel gegen gekränkten Stolz?
Mittwoch, 10. Mai
B io. – Nachdem Schwester Rose uns zum x-ten Mal erklärt, wie wichtig die doppelten Vorhänge im Bioraum sind (während ich Sternchen in meinen Taschenkalender kritzele), sagt sie etwas, das meine Aufmerksamkeit erregt:
»Das Geruchsgedächtnis hat eine längere Speicherdauer als jedes andere Sinnessystem. Das liegt daran, dass es anders funktioniert als das visuelle oder das auditive Gedächtnis. Es überdauert nicht nur besser die Zeit, es speichert auch den sensorischen und emotionalen Kontext.«
Oh, oh, oh! Sehr interessant! Denn, wie gesagt, ich denke überhaupt nicht mehr an Nicolas. Aber wenn ich den guten Weichspüler rieche, nach dem seine Kleider rochen (ich weiß immer noch nicht, welche Marke das war) oder Melonenkaugummi (seine Lieblingssorte), kann ich nicht verhindern, ein kleines bisschen, ähm … emotional zu werden. Aber nach Schwester Rose ist das etwas, das sich leicht beheben lässt (indem ich nämlich den Kontakt mit dem Geruch von Weichspüler oder Melonenkaugummi meide). Und von Schokolade kriege ich zum Glück einen anderen Geruch in den Kopf (bzw. in die Nase).
11:15
Schwester Rose fährt fort: »Der Geruchssinn ist das älteste und primitivste Sinnessystem. Seine Verbindung zum Gehirn ist die direkteste und kürzeste. Schaut hier« (sie zeigt mit ihrem Stock auf einen Bereich des Gehirns auf einem Plakat mit einem menschlichen Schädel), »über den Riechkolben direkt zum Paleocortex. Mehrere Studien haben gezeigt, dass es für das menschliche Gehirn viel schwieriger ist, ein Geräusch oder ein Bild im Langzeitgedächtnis abzuspeichern als einen Geruch.«
Ich muss daran denken, wie Schwester Rose irgendwann mal gesagt hat, als sie uns den Blutkreislauf mit einem Vergleich zum Straßenverkehr erklären
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