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Das verletzte Gesicht

Das verletzte Gesicht

Titel: Das verletzte Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Monroe
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ein gutes Mädchen, Charlotte.“
    Charlotte presste die Lippen zusammen und wandte sich vom Spiegel ab. Diesen Jemand würde es nicht geben. Nicht für sie. „Die Jacke passt nicht unter meinen Mantel“, sagte sie mit bebender Stimme. „Ich nehme sie über den Arm.“
    Ihre Mutter blickte müde auf die im Schoß gefalteten Hände. „Ja“, stimmte sie leise zu und spielte das Theater mit. „Mit der Jacke wird es gehen. Nette Mädchen brauchen sich nicht zur Schau zu stellen.“
    Charlotte vergaß die Jacke. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sie auf der Bank neben der Eingangstür liegen. Wie konnte sie so vergesslich sein? Sie hätte sich ohrfeigen mögen. Eine Sekunde Nachlässigkeit bedeutete stundenlange Qual.
    Sie wollte so schnell wie möglich nach Hause zurück. Sie würde sich kurz blicken lassen, damit ihr Boss sie sah, und sich dann entfernen. Charlotte blickte von der Tür in den Bankettsaal. Auf einer riesigen Drehbühne standen runde Tische, dekoriert mit künstlichen silbernen Weihnachtssternen und grünen und roten Bändern.
    „Komm rein!“ rief jemand aus der Menge. Charlotte machte einen kleinen Schritt über die Schwelle und hielt sich den Mantel am Hals zusammen. Zur Melodie von „A Holly Jolly Christmas“ genossen die Feiernden dank langsamer 360-Grad-Drehung einen Rundumblick über Chicagos Skyline und Lake Michigan.
    Alle waren da, von der Geschäftsleitung bis zum kleinsten Angestellten. McNally und Kopp war eine kleine Buchhaltungsfirma. Doch wenn man die Zahl der Angestellten mit zwei multiplizierte, brauchte man kein mathematisches Genie, um auf über hundert Leute zu kommen, die heute Abend hier Weihnachten feiern wollten. Und wie es klang, hatten die meisten bereits mehrere Gläser Alkohol intus.
    In einer Ecke hatte sich eine Gruppe Männer in Anzügen an der Bar versammelt. Zwischen Lachen und Trinken suchten sie mit Blicken den Raum ab wie hungrige Tiere.
    „Charley!“
    Bei dem verhassten Namen zuckte Charlotte zusammen. Judy Riker, die Büroleiterin, kam auf sie zu. Ihr freizügiges rotes Paillettenkleid mit Spaghettiträgern hielt ihre Figur kaum zusammen. Mann, o Mann, dachte Charlotte schmunzelnd. Ihre Mutter wäre schockiert, so viel von Judys „du weißt schon“ zu sehen. Die Männer an der Bar bemerkten Judy auch, und Charlotte sah, wie sie sich einander zuneigten und über sie tuschelten.
    „Ich wollte gerade gehen“, sagte Charlotte, als Judy sie erreichte.
    „Gehen? Blödsinn. Du bist gerade erst gekommen. Komm schon, sei kein Mauerblümchen. Es wird Zeit, dass du dich ein bisschen amüsierst.“ Judy überredete die zögernde Charlotte, den Mantel abzulegen. „Junge, was für ein tolles Kleid“, sagte sie und konnte ihre Überraschung nicht verbergen. „Rot steht dir gut, Charley. Du solltest es häufiger tragen, nicht immer dieses fürchterliche Schwarz und Grau. Die Leute fragen schon, ob du in Trauer bist. Bei deinem langen blonden Haar ist Rot eindeutig deine Farbe.“
    „Schließlich ist Weihnachten“, erwiderte sie errötend.
    „Nun denn, fröhliche Weihnachten, Charley! Komm, holen wir uns etwas zu trinken. Getränke muss man bar bezahlen, diese Geizhälse. Man hätte meinen sollen, dass sie für Weihnachten was springen lassen. Ach, was soll’s, ich lade dich ein. Heben wir einen auf den guten alten Nikolaus.“
    Judy spendierte Charlotte einen Weißwein und deutete in die Richtung des ihr zugewiesenen Platzes. Damit war ihr Job als Hostess getan, und sie verschwand in der Menge. Wieder allein, umklammerte Charlotte den Stiel ihres Weinglases wie einen Rettungsanker und suchte sich ihren Weg zum Tisch. Um dorthin zu gelangen, musste sie an der Bar vorbei. Ihr Mut sank.
    Sie hatte früh gelernt, dass ein hässliches Gesicht ebenso viele Kommentare heraufbeschwor wie ein hübsches. Vielleicht sogar mehr. Die Schultern leicht eingezogen, ließ sie das Haar in geübter Tarnung nach vorn fallen. Sie stellte sich vor, auf der Bühne zu sein, suchte sich einen Punkt in der Ferne und ging zur Hintergrundmusik von „Babes in Toyland“ darauf zu.
    Als sie an der Bar vorbeikam, verstummten die rowdyhaften Männer. Sie hielt den Atem an und flehte zum heiligen Antonius, sie vor Schweinen zu schützen. Das Weinglas umklammernd fand sie ihren Platz und schlüpfte rasch auf die Vinylpolsterung. Sie wollte soeben dem heiligen Antonius danken, als sie einen Mann auf sich zusteuern sah, und wandte das Gesicht ab.
    „Entschuldigen Sie“, sagte er neben ihr,

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