Das verletzte Gesicht
kannte das Hotel und die Polizei von Chicago gut genug, um keinen Versuch zu starten. Stattdessen hatte er Helena Godowski aufgesucht.
Er unterdrückte ein Lächeln, als er sich an das kurze und ungemütliche Treffen mit Charlottes Mutter erinnerte. Einen Parkplatz zu finden war schwieriger gewesen als die Straße. Harlem Avenue war eine der Hauptverkehrsadern an der West Side.
Die Häuser hier waren der Albtraum jedes Architekten. Sechs identische, viergeschossige Gebäude, mit falschem Stein verklinkert wie in den Siebzigern üblich. Die typischen Behausungen für Menschen mit niedrigem Einkommen.
Im Eingangsflur setzte sich der Stil mit grünem Linoleum, abblätternder Farbe, einfachen Metallbriefkästen und Klingeln mit handgeschriebenen Namensschildern fort. War es da ein Wunder, dass Charlotte für sich und ihre Mutter eine Villa im Frank-Lloyd-Wright-Stil in Oak Park erfunden hatte?
Helena öffnete die Tür einen Spalt und beäugte ihn argwöhnisch, während er rasch erklärte, warum er sie sprechen müsse.
„Ich habe keine Tochter“, erwiderte sie säuerlich, als er Charlotte erwähnte. Als er nachfragte, straffte sie die breiten Schultern und wollte die Tür zuschlagen.
Er stemmte sich dagegen, vielleicht aus Wut darüber, dass sie ihre Tochter verleugnete, vielleicht aus Verzweiflung, und bat um einige Minuten. „Charlotte ist sehr krank.“
Sie gab nach und ließ ihn unter der Bedingung ein, dass er nach fünf Minuten gehe. Er betrat das düstere Apartment, das voll gestopft war mit schwerem alten Mobiliar, und nahm auf einem Blümchensofa Platz.
Während er von Charlottes Erkrankung berichtete, wanderte sein Blick suchend durch den Raum, um Hinweise zu finden, dass Charlotte hier gelebt hatte.
Plötzlich entdeckte er auf dem Fernseher das Foto einer fremden, jedoch seltsam vertrauten Frau in Talar und Hut. Das lange seidige Haar und die zarte Haut waren unverkennbar. Die strahlend blauen Augen verströmten Wärme und Intelligenz, hatten jedoch einen Ausdruck, den er nur als herausfordernd einordnen konnte. Sie brauchte diesen Blick, dachte er mitfühlend, denn diese junge Frau schien kein Kinn zu haben.
„Charlotte?“ fragte er leise. Konnte das sein? Es schien unmöglich.
Helena folgte seiner Blickrichtung. „Ja, das ist meine Charlotte. Nach dem Collegeabschluss. Vor der Operation.“
Er wollte Helena nicht zeigen, welche Wirkung dieses Foto auf ihn hatte. Stattdessen räusperte er sich und fragte: „Darf ich es sehen?“
Helena stemmte sich hoch und brachte ihm das Foto. Er betrachtete es forschend und suchte in diesem Gesicht die Frau, die er liebte. Es war ein vertrautes und doch fremdes Gesicht. Auch die Nase war anders. Wo steckte Charlotte in alledem?
Er bedeckte den unteren Teil des Gesichtes mit der Hand und sah die Augen der Frau. Charlotte, dachte er und wusste, dass er sie immer lieben würde.
Er gab das Foto zurück und kam auf sein eigentliches Anliegen. Er lockte, bat und flehte, Helena möge mit ins Studio kommen und Charlotte überreden, die Implantate entfernen zu lassen.
Helena saß kerzengerade da, die Knie zusammengepresst, die Hände über der Schürze gefaltet. Das Bild eiserner Selbstdisziplin. Sie stellte keine Fragen. Sie war eine einsame, ausgelaugte Frau, die der Welt eher stirnrunzelnd als lächelnd begegnete. Darin ist sie das Gegenteil ihrer Tochter, dachte er und wartete auf eine Antwort.
Die ließ nicht auf sich warten, und er konnte die Gleichgültigkeit dieser Frau kaum fassen. Mit der förmlichen Höflichkeit, mit der eine Hausangestellte einen Vertreter abfertigt, dankte sie ihm für sein „Interesse“. Dann erhob sie sich, geleitete ihn zur Tür und verabschiedete sich mit den Worten, er solle sie nicht im Studio erwarten.
Er bekam Mitleid mit dem Kind Charlotte, das bei dieser harten, förmlichen Frau aufgewachsen war. Wunderte es da, dass Charlotte zu gefallen versuchte? Dass sie sich eine falsche Kindheit voller Liebe und Lachen ausgemalt hatte? Er liebte sie umso mehr.
Er wollte schon gehen, als er doch so etwas wie Besorgnis in Helenas Augen las, die denen ihrer Tochter sehr ähnlich waren. Das veranlasste ihn, ihr freundlich mitzuteilen, dass draußen eine Limousine auf sie warte, sollte sie es sich anders überlegen. Dann hatte er sich höflich bedankt und war gegangen.
Seufzend blickte er auf die Bühne. Sie war leer bis auf einen weißen Sessel in der Mitte. Er rieb sich das Kinn, besorgt, dass die harte Befragung, die Charlotte
Weitere Kostenlose Bücher