Das Verlies der Stuerme
und Anula hatte ihm vorsichtig das verschrumpelte Gesicht gewaschen und die abgestorbenen Hautstückchen und den getrockneten Schweiß abgerieben. Sie hatte geweint und gelacht und ihn immer wieder vorsichtig geküsst. Dann hatten sie alle gemeinsam bis weit in die Nacht geredet und sich gegenseitig berichtet, wie es ihnen ergangen war. Jetzt lagen Ben und Anula eng umschlungen in ihrem großen Bett in der Trollfestung. Ben hatte das Gefühl, ihr noch so vieles sagen zu wollen, doch eigentlich wollte er nur immer wieder wiederholen, wie sehr er sie liebte. Wie sehr er sie vermisst hatte, wie stolz er auf sie war und so vieles, doch er brachte vor Müdigkeit keinen vernünftigen Satz heraus.
Sanft löste sich Anula von ihm und sah nach seinem Bein. Der Abt hatte es nicht brechen lassen, doch der Kerkermeister hatte ihm bei der nächsten Essensausgabe mit seinem Stock draufgeschlagen, sodass der Knöchel und die Wade dick und blau waren. Ob auf Befehl des Abts oder weil er selbst wütend auf seinen maskierten Gefangenen gewesen war, wusste Ben nicht. Vorsichtig küsste Anula die beiden Schwellungen, dann kroch sie wieder in Bens Arme.
»Ich …«, sagte Ben, aber dann wusste er schon nicht mehr weiter. Der Schlafmangel der letzten Nächte forderte seinen Tribut. Bevor ihm die Augen zufielen, hob er noch die
Hand, um durch Anulas Haar zu streichen, um sie zu sich zu ziehen und zu küssen, doch bevor er die Bewegung ausgeführt hatte, war er eingeschlafen. Er schlief so tief und friedlich, dass er erst am nächsten Nachmittag erwachte.
Am Abend brachen sie zu der Ruine auf, in der Aiphyron gefangen war. Akse hatte Bens Bein untersucht und versichert, dass nichts gebrochen war. Den Schmerz musste Ben nun einfach aushalten, denn ohne seine Gabe konnten sie den Drachen nicht befreien. Keiner wollte gegen Aiphyron kämpfen, er war zu groß und stark, und sie wussten nicht, ob er ohne Flügel nicht wild Feuer speien würde, wenn die schwarzen Männer es ihm befahlen. Sie mussten es mit einer List versuchen, und so gingen sie im Schutz der Dunkelheit ein Stück vor der Ruine zu Boden.
»Wie seh ich aus?«, fragte Ben und strich sich durch das frisch gewaschene Haar.
»Gut.« Anula lächelte und rubbelte mit dem Daumen über den obersten Knopf seines Hemds. Er trug die zweite Garnitur, die ihm Finta Dogha gegeben hatte, und damit die Farben des Händlers.
»Und ihr seid sicher, dass es ein Schwarzmarkt für Drachen ist?«, fragte Ben. Er wusste, dass es keinen besseren Plan gab, doch seine Gefangenschaft steckte ihm noch in den Knochen. Er hatte Angst.
»Wir haben dich im Blick«, antwortete Marmaran. »Wenn irgendwas passiert, holen wir dich sofort raus.«
Ben nickte.
Anula umarmte ihn und küsste ihn und wollte ihn nicht loslassen. Langsam löste er sich und atmete tief durch. Dann schritt er auf einem schmalen Pfad durch den nächtlichen
Wald Richtung Ruine. Den angeschwollenen Fuß zog er nach und bemühte sich, nicht auf den Schmerz zu achten. Hinter ihm erhoben sich die Drachen wieder, Anula und Yanko blieben am Boden. Der Pfad führte gerade zwischen den Bäumen hindurch, immer wieder ragten Äste hinein, die er mit erhobenen Händen beiseiteschob. Es war zu dunkel, um irgendwelche Spuren zu erkennen, der Wald schien in seiner Schwärze undurchdringlich. Nur selten knackte etwas, und ein Tier, das er nicht kannte, stieß ein hohes Klagen aus.
Schließlich erreichte er den alten Wehrhof, dessen Mauern im spärlichen Mondlicht hoch und dick wirkten. Ohne zu zögern näherte er sich dem Gebäude.
»Halt! Was willst du hier?«, empfing ihn ein Mann in schwarzer Tunika am Tor. Er war so groß und breit wie die meisten Wächter, mit denen es Ben bislang zu tun bekommen hatte, wirkte aber nicht annähernd so einfältig wie die des Klosters. Im Augenwinkel erkannte Ben einen zweiten Mann, der sich im Schatten hielt, die Hand am Schwert.
»Ich bin Herb. Herr Finta Dogha schickt mich, ich soll mir einen Drachen ansehen.« Ben wollte weder seinen richtigen Namen noch Citho verwenden, falls von der verunglückten Hinrichtung doch etwas bis hierher in den Wald gedrungen war. Er hoffte dennoch, dass nicht, und dass sie Fintas Farben erkannten und sogar gehört hatten, dass er seinen Drachen in einem furchtbaren Sturm verloren hatte. Denn darauf basierte ihr ganzer Plan. Finta hatte betont, wie wichtig ein Drache für einen Händler war, um Eindruck beim Geschäftspartner zu schinden. Es war glaubwürdig, dass Finta nun
Weitere Kostenlose Bücher