Unglücklich sein (German Edition)
Vorwort
»Heute ist nicht mein Tag!« Wer das sagen kann, hat noch einmal Glück gehabt: Bei vielen Menschen dauert das länger als nur einen Tag. Sie müssen mit dem Unglücklichsein leben, sie haben es sich nicht selbst ausgesucht. Gesteigert wird dieser Zustand noch von einer Zeit, die die Menschen glauben macht, sie müssten dauernd glücklich sein. Von den Plakatwänden schreit es herab: »Glück!« Aus den Werbespots blitzt es hervor: »So werden Sie glücklich!« Prospekte versprechen: »Noch mehr Glück!« Bei Reiseveranstaltern ist es zu buchen: »Glücksgarantie!« Zeitungen titeln: »Wie Sie auf Glück umschalten«, um wenig später verwundert zu fragen: »Warum sind wir nicht glücklicher?«
Um nicht missverstanden zu werden: Es ist ein Gewinn, wenn es im menschlichen Leben um Glück gehen darf und nicht mehr nur um Lebenserhaltung und Pflichterfüllung. Aber was ist, wenn das Glück selbst zur Pflicht wird? Die Rede vom Glückhat eine normative Bedeutung gewonnen, malt den Menschen also eine neue Norm an die Stirn: Du musst glücklich sein, sonst lohnt sich dein Leben gar nicht. Wer unglücklich ist, beginnt sich Vorwürfe zu machen, dass ihm etwas fehlt und dass er den Anforderungen des glücklichen Lebens nicht gewachsen ist. Offenkundig hat er versagt. Alle Anderen scheinen es ja zu schaffen, jedenfalls arbeiten sie hart daran, diesen Eindruck zu erwecken. Neid zerfrisst die Seele der Unglücklichen: Nie wird Anschluss an all die Glücklichen zu finden sein, die diesen Planeten bevölkern, sofern den weltweiten Glücksforschungen Glauben geschenkt werden darf.
Eine drohende Diktatur des Glücks lässt keinen Raum dafür übrig, unglücklich zu sein. Ein scharfer Gegenwind schlägt jedem entgegen, der an der Fähigkeit des Glücks zur Alleinherrschaft über das menschliche Leben zweifelt. Es ist ja wahr, dass ein penetranter Pessimismus lästig ist. Aber auch der ostentative Optimismus ist nicht immer lustig. Die Einschüchterung der Unglücklichen geht so weit, dass sie nicht mehr wagen, über ihren Zustand zureden, ja, mehr noch, überhaupt nur daran zu denken, denn das wäre ein negatives Denken, während sie doch immer alles positiv sehen sollen.
Was sind die Gründe für die Glückshysterie, die immer wieder ausbricht? Ein Grund dafür ist die Flucht ins Glück . Je größer der Druck der äußeren Verhältnisse, desto heftiger fragen Menschen nach ihrem inneren Glück: Bin ich denn glücklich? Warum alle Anderen, nur ich nicht? Wie kann ich künftig glücklich werden? Aber drängende Fragen stellen sich auch mit Blick auf die Schattenseiten des Glücks: Wie viele Menschen werden unglücklich, nur weil sie glauben, glücklich werden zu müssen? Und was ist mit den Vielen, die unglücklich sind und nicht nur damit fertig werden müssen, sondern auch noch damit, dass die ganze Gesellschaft im Glück zu schwelgen scheint? Müssen die Unglücklichen sich nicht ausgeschlossen fühlen, je mehr die scheinbar Glücklichen auf ihrem Glück beharren?
Die um sich greifenden Lobpreisungen des Glücks fordern solche Fragen heraus, denn sie sind, um das pointiert zu sagen, zumindest teilweise asozial .Sie interessieren sich nicht dafür, was sie bei denen anrichten, die durch alle Glücksraster fallen, also bei all denen in der Gesellschaft, erst recht in der Weltgesellschaft, die im Unglück schlimmer Verhältnisse leben müssen. Schattenseiten des Glücks? Kommen nicht vor. Und wenn doch, ist der Mensch selbst schuld. Er verweigert sich mutwillig dem Glück. Er strengt sich nicht genug an. Er hat wohl die vielen Glücksratgeber nicht sorgfältig genug gelesen. Womöglich ist er unfähig zum Glück, ein genetischer Fehler, eine bedauerliche soziale Benachteiligung. Er hat einfach Pech, aber das ist »nicht mein Problem«. Wer unglücklich ist, hat die moderne Pest, er wird behandelt wie ein Aussätziger, man hält sich gerne fern von ihm.
Habe ich nicht selbst mit einem Buch zur verstärkten Aufmerksamkeit auf das Glück beigetragen? Mag sein, aber mit dem Hinweis, dass es nicht das Wichtigste im Leben ist. * Mein Anliegen ist nicht, jede Bedeutung des Glücks fürs menschliche Leben zu bestreiten, sondern seine absolut werdende Bedeutung wieder etwas zu relativieren. Glück ist wichtig, aber wichtiger ist Sinn . Dass es im Leben allein um Glück gehe, ist eine Märchenerzählung derer, die den schwindenden Sinn im modernen Leben durch Glück ersetzen wollen, aber damit ist es definitiv überfordert.
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