Das Verlorene Labyrinth
christlichen Zeitrechnung brachte Harif die Papyri in die Heilige Stadt und ließ sie auf den Ebenen von Sepal verstecken. Fast einhundert Jahre lang waren sie dort sicher, bis die Armeen Saladins auf Jerusalem vorrückten. Er wählte einen der Hüter aus, einen jungen christlichen chevalier namens Bertrand Pelletier, um die Papyri nach Frankreich zu bringen.«
Alaïs ' Vater.
Alice merkte, dass sie lächelte, als hätte sie gerade Neuigkeiten über einen alten Freund erfahren.
»Harif erkannte zweierlei«, erzählte Audric weiter. »Erstens, dass die Papyri innerhalb der Seiten eines Buches sicherer und geschützter aufgehoben wären. Zweitens, dass die Wahrheit sich am besten unter einer Schicht aus Mythen und Legenden verbergen ließ, denn an den Höfen Europas zirkulierten inzwischen immer mehr Gerüchte über den Gral.«
»Zum Beispiel, dass die Katharer im Besitz des Kelches Christi wären«, sagte Alice, die plötzlich begriff.
Baillard nickte. »Die Jünger des Jesus von Nazareth rechneten nicht damit, dass er am Kreuz sterben würde, aber so kam es. Sein Tod und seine Auferstehung förderten die Entstehung von Geschichten von einem heiligen Becher oder Kelch, einem Gral, der ewiges Leben schenkte. Wie diese Geschichten damals gedeutet wurden, weiß ich nicht, aber fest steht, dass die Kreuzigung des Nazareners eine regelrechte Verfolgungswelle auslöste. Viele flohen aus dem Heiligen Land, darunter auch Joseph von Arimathäa und Maria Magdalena, die beide mit dem Schiff nach Frankreich kamen. Und es wird gesagt, dass sie das Wissen um ein uraltes Geheimnis mitbrachten.«
»Die Gralspapyri?«
»Oder irgendeinen Schatz, d ie Juwelen aus dem Tempel Salo mons. Oder den Kelch, aus dem Jesus von Nazareth beim letzten Abendmahl trank und in dem sein Blut aufgefangen wurde, als er am Kreuz hing. Oder Pergamente, schriftliche Zeugnisse, die belegten, dass Christus nicht am Kreuz gestorben war, sondern lebte, sich hundert und mehr Jahre mit einer kleinen auserwählten Schar von Gläubigen in den Bergen der Wüste versteckt hielt.«
Alice hatte es die Sprache verschlagen. Sie starrte Audric an, aber sein Gesicht war wie ein verschlossenes Buch, und sie konnte nichts darin lesen.
»Dass Christus nicht am Kreuz gestorben war«, wiederholte sie und konnte kaum glauben, was sie da sagte.
»Oder andere Erzählungen«, sagte er langsam. »Manche behaupteten, dass Maria Magdalena und Joseph von Arimathäa nicht in Marseille, sondern in Narbonne gelandet waren. Seit Jahrhunderten glaubt man, dass etwas sehr Wertvolles irgendwo in den Pyrenäen versteckt worden ist.«
»Dann waren es also nicht die Katharer, die das Geheimnis des Grals besaßen«, folgerte Alice, »sondern Alaïs . Und sie boten ihr Zuflucht.«
Alice lehnte sich auf dem Stuhl zurück und ging die Ereignisse noch einmal in Gedanken durch.
»Und jetzt ist die Labyrinth-Höhle geöffnet worden.«
»Zum ersten Mal seit fast achthundert Jahren können die Bücher wieder zusammengeführt werden«, sagte er. »Und obwohl Sie, Alice, nicht genau wissen, ob Sie mir glauben oder das, was ich Ihnen erzählt habe, als das wahnhafte Gerede eines alten Mannes abtun sollen, gibt es andere, die nicht daran zweifeln.«
Alaïs glaubte an die Wahrheit des Grals.
Tief in ihrem Innern, jenseits der Grenzen ihres bewussten Denkvermögens, wusste Alice, dass er die Wahrheit sagte. Aber ihrem rationalen Ich fiel es schwer, das zu akzeptieren. »Marie-Cecile«, sagte sie dumpf.
»Heute Nacht wird Madame de l'Oradore in die Labyrinth- Höhle gehen und versuchen, den Gral zu beschwören.«
Alice spürte, wie eine Welle der Furcht sie erfasste.
»Aber das kann sie nicht«, sagte sie rasch. »Ihr fehlt das Buch der Wörter. Ihr fehlt der Ring.«
»Ich fürchte, sie hat begriffen, dass das Buch der Wörter noch immer in der Kammer sein muss.«
»Stimmt das?«
»Ich weiß es nicht genau.«
»Und der Ring? Den hat sie doch auch nicht.« Sie senkte den Blick auf seine dünnen Hände, die flach auf dem Tisch lagen. »Sie weiß, dass ich kommen werde.«
»Aber das ist doch Wahnsinn«, entfuhr es ihr. »Wie können Sie auch nur im Traum daran denken, dorthin zu gehen?«
»Heute Nacht wird sie versuchen, den Gral zu beschwören«, sagte er mit tiefer, gleichmütiger Stimme. »Und deshalb wissen sie, dass ich kommen werde.«
Alice schlug klatschend mit den Händen auf den Tisch. »Was ist mit Will? Was ist mit Shelagh? Ist Ihnen das Schicksal der beiden denn völlig
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