Das Verlorene Labyrinth
gesagt, dass sie kommen. Bleiben Sie bei mir. Bitte geben Sie nicht auf.«
Sajhë schüttelte den Kopf. »Es ist vorbei. Meine Reise geht zu Ende. Ihre fängt gerade erst an.«
Alice strich ihm die weißen Haare aus der Stirn.
»Ich bin nicht sie«, sagte sie leise. »Ich bin nicht Alaïs .«
Er stieß einen langen, ruhigen Seufzer aus. »Ich weiß. Aber sie lebt in Ihnen weiter ... und Sie in ihr.« Er stockte. Alice sah ihm an, wie viel Schmerzen ihm das Reden bereitete. »Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit gehabt, Alice. Aber dass ich Sie kennen lernen durfte, diese gemeinsamen Stunden mit Ihnen hatte. Das ist mehr, als ich mir je erhofft hatte.«
Sajhë verstummte. Der letzte Hauch Farbe wich aus seinem Gesicht, aus seinen Händen, bis nichts mehr übrig war.
Ein Gebet, das vor langer Zeit gesprochen wurde, kam ihr in den Sinn.
»Payre sant, Dieu dreiturier dels bons esperits.« Die altvertrauten Worte kamen ihr wie von selbst über die Lippen. »Heiliger Vater, gerechter Gott guten Geistes, gewähre uns die Gnade, das zu wissen, was du weißt, das zu lieben, was du liebst.«
Alice kämpfte gegen die Tränen an, während sie ihn in den Armen hielt und spürte, wie seine Atmung immer schwächer und leiser wurde, schließlich erstarb.
Epilog
Los Seres
Sonntag, 8. Juli 2007
E s ist acht Uhr abends. Wieder geht ein wunderbarer Sommertag zu Ende.
Alice tritt an das breite Flügelfenster und öffnet die Läden, um das schräg fallende, orangefarbene Licht hereinzulassen. Eine leichte Brise streichelt ihre nackten Arme. Ihre Haut hat die Farbe von Haselnüssen, und ihr Haar ist zu einem Zopf auf dem Rücken geflochten.
Die Sonne steht jetzt tief, ein vollkommener runder Ball am rosaweißen Himmel. Sie wirft mächtige schwarze Schatten über die nahen Gipfel der Sabarthès-Berge, wie zum Trocknen ausgelegte Stoffbahnen. Vom Fenster aus kann sie den Col des Sept Frères sehen und dahinter den Pic de Saint-Bartélémy.
Es ist auf den Tag genau zwei Jahre her, dass Sajhë starb.
Zuerst fiel es Alice schwer, mit den Erinnerungen zu leben. Der laute Schuss in der klaustrophobischen Kammer, das Beben der Erde, das weiße Gesicht in der Dunkelheit, Wills Gesichtsausdruck, als er zusammen mit Inspektor Noubel in die Höhle gestürmt kam.
Am meisten jedoch verfolgte sie die Erinnerung an das Licht, das in Audrics Augen erlosch - Sajhë, denn so nennt sie ihn inzwischen nur noch.
Ganz am Ende sah sie Frieden darin, keine Trauer mehr, aber das hat ihren Schmerz nicht gelindert.
Je mehr Alice erfuhr, desto mehr verlor sich der Schrecken jener letzten Momente, der sie zunächst nicht mehr loslassen wollte. Allmählich verlor die Vergangenheit die Macht, sie zu quälen. Sie weiß, dass Marie-Cecile und ihr Sohn von den herabstürzenden Felsen erschlagen wurden. Beide sind bei dem Erdbeben vom Berg verschlungen worden. Paul Authié wurde dort gefunden, wo Fran c ois-Baptiste ihn erschossen hatte. Der Zeitzünder für die vier Sprengladungen hatte unaufhaltsam neben seiner Leiche gelegen und die Detonationen ausgelöst.
Als jener Sommer zu Herbst wurde, der Herbst zu Winter, erholte Alice sich nach und nach - mit Wills Hilfe. Die Zeit tut ihr Werk. Die Zeit und die Verheißung eines neuen Lebens. Allmählich verblassen die schmerzlichen Erinnerungen. Wie alte Fotografien, an die man sich nur halb und verschwommen erinnert, setzen sie in ihrem Kopf Staub an.
Alice hat ihre Wohnung in England verkauft. Mit dem Geld und dem Erlös aus dem Verkauf des Hauses ihrer Tante in Salleles d'Aude haben Will und sie sich in Los Seres niedergelassen.
Das Haus, in dem Alaïs einst mit Sajhë , Bertrande und Harif lebte, ist jetzt ihr Zuhause. Sie haben es ausgebaut und modernisiert, aber der Geist des Ortes ist unverändert geblieben.
Das Geheimnis des Grals ist sicher, so wie Alaïs es wollte, verborgen in diesen zeitlosen Bergen. Die drei Papyri, die aus ihren mittelalterlichen Büchern gelöst worden waren, liegen unter Felsgestein begraben.
Alice hat begriffen, dass es ihre Bestimmung war, das zu Ende zu bringen, was vor achthundert Jahren unvollendet geblieben war. Sie weiß jetzt auch, so wie Alaïs es wusste, dass der wahre Gral in der Liebe liegt, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, in den Worten, die der Vater dem Sohn, die Mutter der Tochter sagt. Die Wahrheit ist überall um sie herum. In den Steinen, den Felsen, den sich wandelnden Formen der Jahreszeiten in den Bergen.
Durch die
Weitere Kostenlose Bücher