Das Verlorene Labyrinth
Mitte ab und zog sich das Messer über die eigene Haut, sah zu, wie das Blut am Arm herunterrann. Das Vermischen des Blutes.
Eine jähe Erkenntnis durchzuckte Alice. Der Gral gehörte allen Religionen und keiner. Christen, Juden, Muslime. Fünf Hüter, die aufgrund ihres Charakters, ihrer Taten ausgewählt wurden, nicht wegen ihrer Abstammung. Alle waren gleich.
Alice sah, wie Marie-Cécile aus jedem der Bücher einzelne Blätter nahm, die zwischen den Seiten lagen. Das dritte davon hielt sie hoch. Es war ein Papyrusblatt. Im Licht war die Maserung deutlich zu erkennen. Auch das Symbol darauf.
Das Anch, das Symbol des Lebens.
Marie-Cécile hob die Schale an die Lippen und trank das Blut. Dann stellte sie die Schale mit beiden Händen wieder ab und sah durch die Kammer zu Audric hinüber, fixierte ihn mit bohrendem Blick. Es kam Alice so vor, als forderte sie ihn heraus, ihr Einhalt zu gebieten.
Dann zog sie den Ring vom Daumen und drehte sich so schnell zu dem Steinlabyrinth um, dass ein Luftzug durch die stille Kammer glitt. Das Licht der Lampe auf dem Altar flackerte und ließ Schatten die Wände hinaufhuschen. Plötzlich bemerkte Alice in dem Stein zwei eingemeißelte Formen, die ihr zuvor nicht aufgefallen waren.
Im Innern des Labyrinths waren das Anch und die Umrisse des Kelches deutlich zu erkennen.
Alice hörte ein Klicken, als rastete ein Schlüssel in ein Schloss ein. Einen Moment lang tat sich nichts. Dann drang aus der Tiefe der Wand ein Geräusch, als bewegte sich Stein gegen Stein. Marie-Cécile trat zurück. Alice sah, dass sich eine kleine Öffnung, nicht größer als die Bücher, in der Mitte des Labyrinths aufgetan hatte. Eine Art Nische.
Worte und Sätze kamen ihr in den Sinn, Audrics Erklärung und die Ergebnisse ihrer eigenen Nachforschungen, alles zusammen. In der Mitte des Labyrinths ist Erleuchtung, in der Mitte liegt Erkenntnis. Alice dachte an die christlichen Pilger, die in der Kathedrale von Chartres den Chemin de Jérusalem beschreiten, in der immer enger werdenden Spirale des Labyrinths nach Erleuchtung suchen.
Hier, im Gralslabyrinth, lag das Licht - wortwörtlich - im Mittelpunkt der Dinge.
Alice sah, wie Marie-Cecile die Lampe vom Altar nahm und in die Nische stellte. Sie schien wie dafür gemacht. Sofort strahlte sie auf, und die Kammer wurde von Licht durchflutet. Marie-Cecile nahm einen Papyrus aus einem der Bücher auf dem Altar und schob ihn in einen Schlitz vor der Nische. Es schluckte ein wenig von dem Licht der Lampe, und die Höhle verdunkelte sich leicht.
Sie fuhr herum und starrte Audric an. Als sie sprach, war der Bann des Augenblicks gebrochen.
»Sie haben gesagt, ich würde es sehen«, schrie sie.
Er richtete seine bernsteinfarbenen Augen auf sie. Alice beschwor ihn innerlich, einfach zu schweigen, aber sie wusste, dass er das nicht tun würde. Aus Gründen, die sie nicht verstand, wollte Audric, dass die Zeremonie ihren Lauf nahm.
»Der richtige Wortlaut der Beschwörung wird erst offenbar, wenn die drei Papyri übereinander gelegt werden. Dann, und nur dann sind im Spiel von Licht und Schatten die Worte sichtbar, die gesprochen werden müssen, im Gegensatz zu denen, die stumm bleiben sollen.«
Alice fröstelte. Sie spürte, dass die Kälte in ihr war, als würde ihr alle Körperwärme entströmen, aber sie konnte sich nicht beherrschen. Marie-Cecile drehte die drei Papyri hin und her. »Wie rum?«
»Binden Sie mich los«, sagte Audric mit seiner ruhigen, leisen Stimme. »Binden Sie mich los und stellen Sie sich in die Mitte der Kammer. Ich werde es Ihnen zeigen.«
Sie zögerte, dann nickte sie Fran c ois-Baptiste zu.
»Maman, je ne pense ...«
»Tu, was ich dir sage!«, fauchte sie.
Wortlos durchtrennte Fran c ois-Baptiste den Strick, mit dem Audric am Boden festgebunden war, dann trat er zurück. Marie-Cecile griff hinter sich und nahm das Messer.
»Keine Tricks«, sagte Marie-Cecile und zeigte auf Alice, während Audric langsam durch die Kammer ging. »Sonst töte ich sie. Verstanden?« Sie deutete schroff auf Fran c ois-Baptiste, der neben Will stand. »Oder ihn.«
»Ich verstehe.«
Er warf einen kurzen Blick auf Shelagh, die reglos am Boden lag, dann flüsterte er Alice mit plötzlich zweifelndem Unterton zu: »Ich habe doch Recht, oder? Der Gral wird nicht zu ihr kommen?«
Obwohl Audric sie ansah, kam es Alice so vor, als hätte er die Frage an jemand anderen gerichtet. An jemanden, mit dem gemeinsam er diese Erfahrung schon einmal gemacht
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