Das Vermächtnis des Templers
Symmetrie.
Am letzten Tag ihrer Messung arbeiteten sie am westlichen Abschluss der Klosterkirche.
Johannes bemerkte es sofort. Es war so eindeutig, dass er für einen Moment erschrak.
Jordanus hingegen war nichts aufgefallen, und so führte Johannes die Messungen ohne Unterbrechung fort, diktierte ihm die gewonnenen Längenmaße und schloss die Arbeiten ab.
«Sollten wir auch die Höhenmaße nehmen?», fragte Jordanus, als sie wieder den Kreuzgang erreicht hatten.
«Es wird nicht nötig sein», sagte Johannes. «Das habe ich in Laon auch nicht getan.»
Sie betraten das Scriptorium und sammelten alle Aufzeichnungen auf einem der Pulte.
«Jetzt musst du zeichnen», sagte Jordanus. «Ich bin gespannt auf das Ergebnis.»
Johannes nickte nur, wohlwissend, dass eine Zeichnung nicht mehr nötig war.
In der Nacht versammelten sich die Mönche im Chor der Klosterkirche zur Komplet. Obwohl er an dieser Hora viele Male teilgenommen hatte, war Johannes von den Gesängen und Gebeten noch nie so erschüttert worden wie in dieser Nacht. Die Mönche baten in dieser Stunde Gott darum, dass er sie nicht ins Chaos, ins Nichts fallen lasse.
In dieser Nacht schlief Johannes nur wenige Stunden.
Am nächsten Morgen bat ihn der Abt, nach dem gemeinsamen Mahl im Speisesaal zu bleiben.
«Wie geht es voran mit deinen Messungen?», fragte er und setzte sich neben Johannes auf die Bank.
«Wir sind gestern fertig geworden.»
«Und? Bist du mit dem Ergebnis zufrieden?»
Johannes blickte auf.
«Ich muss alle Längenmaße in eine Zeichnung übertragen.»
Der Abt nickte, schwieg einen Augenblick und blickte zu den Fenstern, die dem großen Raum in dieser Jahreszeit nur wenig Licht gewährten.
«Ich habe noch eine Bitte an dich», sagte er dann. «Der Kapitelsaal soll im Frühjahr neu ausgestaltet werden. Es ist vorgesehen, die Deckenpfeiler mit Sinnsprüchen zu versehen. Es müssen kurze Sätze sein, aus der Heiligen Schrift oder aus den Werken der Kirchenväter. Sie sollen den Mönchen, die im Kapitelsaal beten, Wege in die Kontemplation öffnen. Du gehörst zu jenen Brüdern unseres Klosters, die besonders belesen sind. Ich möchte dich um einen Vorschlag bitten.»
Johannes nickte.
«Wie lange habe ich dafür Zeit?»
«Genug, um in Ruhe nachzudenken», sagte Lefhard. «Am Neujahrstag sollen diese Sinnsprüche feierlich verlesen werden.»
«Gut», sagte Johannes kurz.
Der Abt blickte ihn an.
«Fühlst du dich wohl, jetzt wo du zu uns zurückgekehrt bist?»
«Es ist Winter. In Laon war alles anders.»
Lefhard nickte.
«Ja, die Sonne gibt dem Leben Kraft», sagte er, blickte erneut zu den Fenstern des Speisesaals, erhob sich dann, umarmte Johannes freundschaftlich und begab sich in den Kreuzgang.
Im Anschluss an die gemeinsamen Gebete zur Sext betrat Johannes den großen Schlafsaal, ergriff das Schwert und den Bogen, ging wieder hinab, durchquerte den Kreuzgang und verließ das Klostergebäude über den Ausgang des Konversengebäudes. Er ging durch den Schnee, erreichte die Westfassade der Klosterkirche, betrachtete sie genau und erkannte, dass er am Tag zuvor richtig beobachtet hatte. Warum war ihm das nie aufgefallen? Die großen Geheimnisse sind so offensichtlich, dass man sie nicht sehen kann, dachte er und lächelte still über seine eigene Blindheit.
Dann ging er weiter über den Friedhof zu den Wirtschaftsgebäuden und zur Schmiede. Dort war es angenehm warm. Johannes setzte sich in der Nähe des Feuers auf einen Hocker und beobachtete, wie der alte Schmied ein rotglühendes Hufeisen mit der Zange aus dem Feuer holte und am Amboss zu endgültiger Form trieb. Kurz nach seiner Rückkehr hatte Johannes den Alten besucht und versprochen, bald wiederzukommen und ihm von seiner Reise zu berichten.
Nun saß der Schmied neben ihm und hörte aufmerksam zu. Als Johannes erzählte, dass Jacques entschieden hatte, ihn am Bogen auszubilden, ergriff der Alte das Schwert, betrachtete es genau und legte es dann zu Boden.
«Wahrlich. Es ist kaum benutzt worden», sagte er. «Es verwundert mich. Denn für gewöhnlich werden die Tempelritter am Schwert ausgebildet.»
Dann nahm er sich den Bogen, prüfte die Spannung des Holzes und zog ein wenig an der Sehne.
«Dafür braucht man viel Kraft und Geschick», stellte er fest.
Johannes las ihm seinen Wunsch von den Augen und bat ihn, ihm nach draußen zu folgen.
In der Wärme der Schmiede waren die Finger wieder geschmeidig geworden. Johannes wählte einen Pfeil, legte ihn auf und spannte den Bogen. Er hielt diese
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