Das Vermächtnis des Templers
das Ende des Tages mit dem Ende des Lebens. Die Komplet macht ein letztes Mal deutlich, dass das Leben und der einzelne Tag einen vergleichbaren Rhythmus haben. Selten ist Johannes dies so deutlich geworden wie heute.
Doch zugleich weiß er, dass die Komplet für die meisten Mönche verbunden ist mit dem endgültigen Übergang in die Dunkelheit. Er kennt das damit verbundene Gefühl der Unsicherheit, ja der Angst seit seiner Kindheit. Diese Furcht gelangt auch in den letzten Winkel der Seele. So bitten die Mönche in diesem Stundengebet um Vergebung, sie bitten Gott um Schutz und Geborgenheit, darum, dass er sie nicht ins Chaos, ins Nichts fallen lasse. Der Ungewissheit der Nacht, der Ungewissheit angesichts des unausweichlichen Todes stellen sie ihr Vertrauen entgegen. Die Hymne der Komplet bringt beides zum Ausdruck, Angst und Vertrauen: Wenn uns die schwarze Nacht umhüllt, sind wir von Traum und Wahn bedrängt, Dreiein’ge Macht, die alles lenkt, behüte uns in dieser Nacht.
Am Ende des Gottesdienstes gehen die Mönche nacheinander in die Marienkapelle und singen das Salve Regina. Sie kehren zurück in den spirituellen Schoß, um am nächsten Morgen wiedergeboren zu werden. Die Mönche erbitten einen ruhigen Schlaf und gute Träume. Sie wissen, dass vieles davon abhängt, wie man einschläft, und sie haben sich den ganzen Tag auf diesen Übergang vorbereitet, haben alles getan, um reinen, kindlichen Geistes zu sein.
Dann ist Schweigen. Doch die Worte, die Klänge des Tages reichen in die Dunkelheit und das Schweigen hinein. Die Stille zwischen den Noten macht den Raum hörbar…
Johannes von Nienburg, Abt zu Lucca,
an Gottfried Graf von Waldeck, Bischof zu Minden
Lucca, im Jahre der Menschwerdung des Herrn 1323, am Tag des heiligen Wunibald
Mein lieber Freund!
Es ist sonderbar, diese Geschichte noch einmal zu lesen. Fast kommt es mir vor, als erwache ich nun aus einem langen Traum, so lange her sind all die Dinge, die ich Euch schilderte.
Viele Jahre habe ich gewartet, in der Hoffnung, eine Nachricht von meinem Orden zu erhalten. Aber nichts geschah, und alles, was ich erfahren konnte, drang zu mir als Gerücht, und so musste ich Unwahrscheinliches von Wahrscheinlichem trennen. Die Menschen erzählen viel, und die Legenden waren für mich oftmals nur deshalb von der Wahrheit zu unterscheiden, weil ich in die Regeln, Symbole, Rituale und Geheimnisse der Templer eingeweiht bin. Die vielen grässlichen Vorwürfe, die man gegen den Orden vorgebracht hat, sind ganz unsinnig und entspringen entweder den Verleumdungen der Feinde oder der Phantasie der Unwissenden. Ein großer Teil unserer Brüder ist nach Portugal und Spanien geflohen. Dort entstanden neue Orden, die dem der Templer ähnlich sind. Diese neuen Templer sind nicht mehr Wegbegleiter nach Jerusalem. Das ist auch nicht nötig. Steht doch bei Markus geschrieben: Ihr suchet Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten; er ist auferstanden und ist nicht hier. Siehe da die Stelle, da sie ihn hinlegten! Gehet aber hin und sagt es seinen Jüngern.
Die Grabeskirche konnte nicht für immer das Ziel unserer Wegbegleitung sein. Nun sind wir zu Wegbereitern des Glaubens geworden, eines Glaubens, der sich der Unwissenheit des Menschen aufs Neue bewusst ist.
Viele Templer flohen auch nach Schottland, doch habe ich von dort keine genauen Nachrichten. Besonders bedrückend ist, dass ich nie wieder etwas von Jacques gehört habe.
Rätselt Ihr noch immer über die Legende von Köln? Jene seltsame Erzählung über den Regen aus Pfeilen, der drei Templer befreite und ihre Verfolger strafte? Wir beide wissen, dass die Phantasie der Menschen manches vergrößert, manches verfälscht. Oft vermischt sich der persönliche Glaube mit dem Erlebten. Und manche Geschichten werden erfunden. Fast könnte man glauben, dass diese Legende von Templern in die Welt gesetzt wurde, denn sie erscheint wie ein Urteil Gottes: Die üblen Peiniger und Verräter wurden bestraft, die rechtgläubigen Templer aus ihren Fesseln befreit. Doch das wäre wohl als Erklärung recht einfach. Und vielleicht ist, was erzählt wird, durchaus geschehen. Stellt Euch vor, es habe sich damals wirklich so zugetragen, im Jahre der Menschwerdung des Herrn 1307 zu Köln. Wie hätten die Menschen davon erzählt? Die glücklich befreiten Templer würden all dies als Zeichen Gottes gesehen haben, als ein Wunder, das an ihnen getan wurde. Und die vielen hundert Menschen dort auf dem Marktplatz? Konnten nicht auch sie nur an
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