Das Vermächtnis des Templers
verließen sie den Chorraum. Johannes blieb noch eine Weile dort, um Stille zu finden.
Auf der langen Reise nach Laon war kein Tag wie der andere gewesen, und Johannes hatte dies als ein einziges großes Abenteuer empfunden. Doch auf dem Rückweg erschien ihm der Wandel der Tage als etwas Unbeständiges. Im Innersten fühlte er sich zutiefst aufgewühlt und beunruhigt.
Nachdem er Loccum endlich erreicht hatte, schien es ihm zunächst so, als würde ihn das Gleichmaß des klösterlichen Lebens sanft und mild auffangen. Alle Menschen, die ihn umgaben, alle Räume, durch die er schritt, sandten ihm ein herzliches Willkommen zu. Der Abt übertrug ihm die Aufgabe, künftig gemeinsam mit Jordanus das Scriptorium zu verwalten, eine Tätigkeit, die Johannes mit großer Freude annahm, ging es dabei doch nicht um die Bearbeitung von Kontrakten und Urkunden, sondern um die Erhaltung und Erweiterung der Klosterbibliothek. Er wusste, dass ihm diese Tätigkeit auch die Möglichkeit geben würde, Reisen zu unternehmen, um den Buchbestand zu erweitern. Sein Leben würde nicht auf die Welt innerhalb der Klostermauern beschränkt bleiben. Aber gleichzeitig würde er auch die Möglichkeit haben, sich in die Welt der Bücher zurückzuziehen.
Der Rhythmus der Stundengebete verhalf ihm in den folgenden Wochen, innere Ruhe zu finden und von den Strapazen und Wirrungen der letzten Zeit Abstand zu gewinnen.
Dann kam der Tag, als der erste Schnee fiel und sich die Welt verwandelte. Die Jahreszeit der Dunkelheit und des Rückzugs war gekommen. Johannes trat hinaus aus der Pforte des Konversentrakts, auf den Weg, der am Abtshaus vorbei zu den Kornspeichern führte. Kurz wandte er sich um und erblickte seine Spuren im gleichmäßigen Weiß, das an diesem Morgen allem ein neues Aussehen verlieh. Er erinnerte sich an Laon, daran, dass die Kraft der Sonne in den Gassen der Stadt und in der Ebene des weiten Landes alles hatte lebendig werden lassen. Als er im Schnee voranschritt, schien es ihm, als habe sich die Natur zurückgezogen, als sei sie ganz in sich gekehrt, unsicher, ob sie im Frühjahr mit neuer Kraft erwachen werde. Johannes bemerkte, dass er selbst ähnlich empfand. Denn nun würde er eine lange Zeit in den Räumen des Klosters verbringen, zurückgezogen in Gebet und Kontemplation, Wärme findend einzig im beheizten Calefactorium. Wie anders war es doch im Sommer in Laon gewesen. Ganz deutlich wurden die Erinnerungen, die nun seinen Geist erfüllten, und sogleich war die Unruhe wieder da, die er nach seiner Rückkehr im Kloster hatte ablegen wollen. Da traten sie wieder hervor, die Gedanken und Empfindungen, die sein rastloses Herz in Bewegung hielten. War er nicht schon immer rastlos gewesen? Damals, als Jacques ihn aufgegriffen hatte, irgendwo zwischen Lahde und Loccum, unterwegs mit einem Lastkarren, den er hinter sich her zog. Auch das Kloster war ihm bald zu eng geworden. Er hatte sich in die Welt der Bücher geflüchtet. Und als man ihn auf die große Reise in die Ferne schickte, war sein Herz betrübt und befreit zugleich. Von da an wurde sein Leben ein ständiger Wandel. Doch nichts schien ihn dabei wirklich zu erfüllen. Er lernte, mit dem Bogen umzugehen, hatte die Kirchenväter und die Philosophen studiert, war in die Welt der Symbole eingedrungen, hatte das Leben der Templer kennengelernt, doch immer blieb ihm die quälende Einsicht, nicht angekommen zu sein. Wozu war all dies gut gewesen?
Einzig an einem Nachmittag in Laon hatte er anders empfunden. Marie. Sie hatte ihn gelehrt, was Schönheit war. Doch schien es Liebe nicht zu geben ohne den bitteren Schmerz, jenen Schmerz, den er nun empfand, als er sich erinnerte, an den Duft ihres Körpers, an jede sinnliche Berührung, jede wilde ungezügelte Bewegung ihres Körpers, an ihre Haut, die seiden schimmerte, als sie neben ihm lag und ruhig atmete, während er ihr Herz gleichmäßig schlagen hörte und Frieden empfand. Es würde nie wieder so sein.
Nun verbrachte Johannes viele Stunden im Scriptorium. Dort hatte er sich sehr bald einen Überblick verschafft. Besonders aufmerksam wurde er, als Jordanus ihm einige Schriften zur Symbolik und zum Kirchenbau zeigte. Darüber kamen sie in ein langes Gespräch. Johannes erzählte von seinem Aufenthalt in Laon und den Messungen an der Kathedrale.
«Bist du noch im Besitz der Skizzen?», fragte Jordanus. «Nein», antwortete Johannes. «Ich musste alles zurücklassen. Vielleicht werden die Zeichnungen gefunden, und jemand
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