Das verschwundene Kind
Wir brauchen jetzt jeden Mann!«, raunzte Heck.
Ernestine konterte in spitzem Ton: »Frau nicht? Dann kann ich endlich gehen. Meine Freundin will auch nicht den ganzen Tag Kind hüten.«
Irgendetwas splitterte gerade zwischen den beiden, registrierte Stephan. Aber er sollte sich lieber auf seine eigenen Angelegenheiten besinnen. Was hatte sich da zwischen Maren und ihm eingeschlichen?
»Hölzinger ist krank«, erklärte Ernestine und legte den Hörer zur Seite. »Er wird vermutlich auch am Montag nicht kommen.«
Durch einen Anruf in Florian Sauers Elternhaus erfuhren sie von Jutta Sauer, dass Florian heute den ganzen Tag in der Klinik des Vaters sei und dort im Pflegebereich aushelfe.
Wenig später fuhr Stephan im noblen Storchennest vor. Heck und Hoff begleiteten ihn nicht, schließlich waren sie hier unter anderer Identität bekannt. Es gab besondere Parkplätze, die mit einem Storch gekennzeichnet waren. Ein Schild mahnte:
Bitte frei halten! Babys haben es eilig!
Einer dieser Parkplätze war besetzt. Stephan hielt ehrfürchtig inne und nahm das Auto dort ins Visier. Ein Porsche Cayenne! Ein Traum, den er sich nie würde leisten können. Die Kundschaft von Dr. Sauer spielte eindeutig in einer anderen Liga als er. Gerade als Stephan aussteigen wollte, erschien ein Paar auf dem Parkplatz. Er trug stolz einen Babytragesitz. Das ein wenig müde wirkende Gesicht der Frau strahlte eine milde Freude aus. Ganz dicht ging sie neben dem Arm des Mannes und konnte sich vom Anblick des Kindes nicht losreißen. So sah Glück aus! Ein wenig unbeholfen plazierten sie den Babysitz auf die Rückbank des Autos.
Eine Pflegerin im Storchenkittel war dazugekommen. Sie half den frischgebackenen Eltern und überreichte eine dick gefüllte Tasche mit Storchenaufdruck. Junge Eltern?
Stephan runzelte die Stirn. Die grau durchwirkten Haare des Mannes ließen auf ein Alter weit jenseits der vierzig schließen. Die Frau hatte durch ein perfektes Make-up und Styling einige Jahre gutgemacht. Hochgerechnet schätzte Stephan auch sie in die Altersklasse des Mannes. Insofern wären beide für eine reguläre Adoption nicht mehr in Frage gekommen. Es war ihnen also keine andere Möglichkeit geblieben, als sich den Hormonprozeduren des Dr. Sauer zu unterwerfen. Oder?
Stephan sprang aus dem Wagen. Gerade streifte die glückliche Mutter den Stoff ihres teuren Kostümrockes glatt, um neben ihrem Baby auf dem Rücksitz Platz zu nehmen, als Stephan sie zurückdrängte und ihr seinen Ausweis unter die Nase hielt. Der Mann stieg aus dem Auto und protestierte. Die Pflegerin ebenfalls, allerdings mit weniger wohl gewählten Worten.
Stephan ließ sich nicht beirren. Er beugte sich in das Auto und zog dem Baby das Mützchen vom Kopf. Es war ein runzeliges Neugeborenes, höchstens eine Woche alt und hatte einen leichten Flaum dunkler Haare auf dem Kopf. Das war nicht Fatima. Das Baby begann zu quäken. Stephan trat von dem Auto zurück und versuchte zu erklären. Die Frau blitzte ihn mit einem vernichtenden Muttertierblick an und beugte sich dann in das Auto zu dem Kind. Der Mann ließ ebenfalls nicht mit sich spaßen. Er verlangte Stephans Visitenkarte.
»K elf – Offenbach. Sie werden von mir hören, Herr …« Er runzelte die Stirn. »Spricht man sich bei Ihnen in Offenbach nur mit Vornamen an?«
»Stephan ist mein Nachname«, erklärte Stephan finster. Die Pflegerin flötete in Richtung des Paares einen Abschiedsgruß, half beim Schließen der Tür und winkte dem davonfahrenden Wagen nach. Ohne Stephan auch nur eines Blickes zu würdigen, wandte sie sich um und lief auf den Eingang der Klinik zu. Verbrannt, dachte Stephan und ärgerte sich über seinen Auftritt. Damit hatte er sich jegliche Möglichkeit vermasselt, durch liebenswürdiges Plaudern mit den Pflegerinnen an Informationen zu kommen. Sein Blick wanderte über die im Bauhausstil gestaltete Fassade des Fortpflanzungsbunkers. Zu gerne hätte er gewusst, ob da oben in einem der Zimmer jetzt das Baby Fatima im Bettchen bei einer Frau lag, die ihre Bauchattrappe für viel Geld gegen sie eingetauscht hatte. Hinter seiner Stirn begann sich eine Geschichte zu entwickeln, die ihm sehr plausibel erschien. Plötzlich hatte er eine Erklärung für viele Ungereimtheiten der letzten Zeit gefunden.
Eine SMS meldete sich mit zarten Glockentönen. Maren.
Bin übers Wochenende mit Sybille im Taunus. Brauche Ruhe und Abstand.
Das Wort
Abstand
bohrte in ihm. Dazu fielen ihm Floskeln ein wie:
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