Das verschwundene Kind
aus großer Höhe alles im Blick haben würde, gab es nicht. Stephan schauderte. Die nebelnasse Kälte kroch durch die Kleidung. Stephan zog sich in eine Bäckerei zurück, ließ sich einen Becher duftenden, heißen Kaffees geben und stellte sich an einen Stehtisch. Von dort aus beobachtete er das Geschehen auf dem Marktplatz und genoss es, wie die Wärme ihn belebte.
Zufrieden registrierte er, dass auch seine grauen Zellen ihre Arbeit wieder aufgenommen hatten. Wie von selbst begannen sie zu rekonstruieren, wie der Plan des möglichen Täters abgelaufen sein könnte. Schloss man aus, dass es sich bei diesem Kindesraub um eine zufällige Tat handelte, die nichts mit dem aktuellen Fall zu tun hatte, so drängte sich als Erstes die Frage auf, wie der mögliche Täter vom Aufenthalt des Kindes erfahren haben konnte. Diese Frage hatten sie schon bei der Herfahrt im Dienstwagen erörtert. Heck hatte Ernestine ungewöhnlich scharf auf ihre Gedankenlosigkeit hingewiesen, mit der sie dem Jugendamt erlaubt hatte, mit Florian Sauer in Kontakt zu treten.
Stephan hatte das mit einer gewissen Genugtuung registriert und der Hoff einen entsprechenden Blick zugeworfen, der in etwa bedeutete: Du machst doch keine Fehler, hast du neulich gesagt, nicht wahr? Beinahe trotzig hatte sie erwidert, dass auch die Familie Ben Alhallak durchaus Gründe gehabt hätte, sich das Kind anzueignen. Kein Problem wäre es gewesen, am nebeltrüben Freitagabend draußen vor dem Präsidium im Gebüsch des Dreieichparks zu lauern und den Leuten vom Jugendamt bis zur Pflegefamilie zu folgen. Damit hatte Ernestine zweifellos recht. Heck hatte gemeint, dass auch Anselm Kling für ihn nicht außen vor sei. Auch der könnte den Aufenthaltsort des Kindes in Erfahrung gebracht und sich das Kind geholt haben.
Stephan trank einen Schluck von seinem Kaffee. Wie ging man als Kinderdieb vor? Folgte man den Leuten dicht auf den Fersen und wartete dann eine günstige Gelegenheit ab? Oder beobachtete man sie erst eine Weile bei ihren Einkäufen? Die Pflegefamilie war zu dritt unterwegs gewesen. Die Mutter mit ihren beiden älteren Kindern im Alter von zehn und zwölf Jahren. Drei Personen. Sechs Augen, die den Kinderwagen immer irgendwie im Blick hatten. Da lief man als Verfolger schnell Gefahr, entdeckt zu werden. Also musste man genügend Abstand halten. Aber wann ergab sich die Gelegenheit, das Kind aus dem Wagen zu nehmen? Immer dann, wenn alle sechs Augen auf dasselbe Ziel gerichtet waren! Eine Frau und zwei Kinder. Welches gemeinsame Interesse gab es da? Sicherlich nichts am Gemüsestand. Essen! Die Frau hatte doch davon gesprochen, dass etwas gegessen wurde. Er hatte vorhin die Erfahrung am Bratwurststand gemacht. Eigentlich brauchte man in dem Gedränge sechs Hände. Zwei, die bezahlten, zwei, die das Essen entgegennahmen, zwei, die die Getränke trugen.
Stephan zog sein Handy und tippte in die Tasten.
»Heck«, bellte es am anderen Ende.
Stephan teilte seine Idee mit und schlug vor: »Wir müssen die Pflegemutter und die Kinder noch einmal befragen, ob sie sich erinnern können, wo genau sie haltgemacht haben, um etwas zu essen. Dann fragt auch einmal ringsum in den Läden und Lokalen, ob dort jemand aufgefallen ist, der sich in der Nähe der Fenster aufgehalten und draußen den Markt beobachtet hat. Dann müsste man …«
»Halt!«, unterbrach Heck. »Der Markt macht in einer halben Stunde zu. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir versuchen das mal. Wo bist du jetzt?«
Stephan nannte seinen Standort.
Heck entschied: »Gut, dann nehmen wir uns die Süd- und Westseite vor. Du übernimmst Nord und Ost.«
Heck hatte aufgelegt, und Stephan blinzelte irritiert in den nebelgrauen Himmel. Wo, um alles in der Welt, waren hier Nord oder Süd? Die Verkäuferin zuckte mit den Schultern.
»Ich war immer schlecht in Geometrie«, gestand sie, und Stephan lächelte gequält. Ein Kunde deutete auf eine Kopftuchträgerin, die draußen vor der Scheibe vorbeikam.
»Fragen Sie doch die, die weiß wenigstens, wo Osten ist.« Er kicherte.
Stephan ignorierte den Witzbold und wandte sich wieder an die Verkäuferin: »Ist Ihnen heute Morgen zufällig jemand aufgefallen, der sich hier drin aufgehalten hat und mit einer gewissen Anspannung Leute draußen auf dem Markt beobachtete?«
Der Blick, den sie ihm zuwarf, war eine Mischung aus Erstaunen und Herablassung. »Außer Ihnen niemand. Aber ich habe hier hinter der Theke auch viel zu tun, da kann ich nicht …«
»Schon
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