Das verschwundene Kind
gut.« Stephan winkte freundlich ab und verließ den Laden. Unschlüssig schaute er sich um. An einigen Ständen hatte bereits der Aufräumbetrieb begonnen. Einige Marktschreier boten ihre Ware deutlich herabgesetzt an und lockten damit Scharen von Schnäppchenjägern an. Es musste nicht unbedingt ein Stand mit Essen gewesen sein. Es gab hundert Möglichkeiten auf einem solchen Markt. Am Himmel über den Giebeln der alten Häuser zeichnete sich ein heller Fleck ab. Dort also befand sich die Sonnenscheibe auf ihrem Weg nach Westen. Also stand er jetzt gerade im Norden, und linker Hand war Osten. Dort gab es ein Lokal am anderen. Alle mit großen Fenstern mit Blick auf den Markt. Vor einigen standen noch Tische und Sitzgelegenheiten. Das allgemeine Rauchverbot hatte die Freiluftsaison eindeutig verlängert. Auch von diesen Sitzplätzen aus hätte der Täter sein Ziel im Auge behalten können. Stephan seufzte. Da hatte er einiges zu tun. An der Ecke der Häuserreihe befand sich ein Buchladen mit einer Schaufensterseite in Richtung der Bieberer Straße und einer in Richtung des Marktplatzes. Mit wenig Hoffnung betrat er den Laden und sog genüsslich den Duft des bedruckten Papiers ein, der den kleinen Verkaufsraum ausfüllte und ihn an Zeiten in seiner Kindheit erinnerte, wenn die Mutter mit ihm und den Geschwistern für Einkäufe in die Stadt gefahren war und ihm als Ältestem zwei Stunden selbständigen Umherstreunens erlaubt hatte. Irgendwann, vielleicht an einem kalten Tag wie diesem, hatte er entdeckt, welche Schätze man in einem Laden voller Bücher erschmökern und wie selbstvergessen und gut aufgehoben man sich in diesen Läden fühlen konnte. Für ihn war das vermutlich der erste Schritt in Richtung der großen, weiten Welt gewesen, weg aus den engen, dörflichen Verhältnissen. Noch immer umwehte ihn in Buchhandlungen wie dieser jener Hauch von innerer Freiheit. Die Regale reichten rundherum bis zur Decke. Trotz der Enge gab es Sitzgelegenheiten, Ablageflächen und eine Leseecke. Es war ein bis auf den letzten Zentimeter genutztes Aufbäumen gegen die Flut der Angebote aus dem Internet.
Stephan warf einen Blick durch die Scheibe auf den Markt. Dort stand ein Wagen, an dem Döner verkauft wurde. Jetzt um die Mittagszeit herrschte dort reges Gedrängel.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Die Stimme, die ihn ansprach, war eindeutig nicht hessisch eingefärbt und gehörte zu einem weißhaarigen Herrn, in dessen gutmütigem Gesicht tausend lustige Fältchen hüpften. Stephan trug sein Anliegen vor. Der Alte hörte ihm aufmerksam zu. Er schob die Unterlippe vor. »Doch«, sagte er, »da war heute Morgen jemand. Ich hab mich schon gewundert, ob des einer ist, der mir bloß hier hereinwill, um sich aufzuwärmen. Er ist die ganze Zeit hier an der Scheibe gestanden und hat geschaut. Dann ist er auf einmal wie der Blitz hinausgeschossen – weg war er.«
In Stephans Adern kribbelte es. Endlich! »Würden Sie den Mann wiedererkennen, wenn ich Ihnen ein Foto zeige?«
Der Buchhändler schüttelte bedauernd den Kopf. Leider habe er den jungen Mann nur von hinten gesehen. Er selbst habe gerade am Jugendbuchregal eine Kundin beraten und konnte den jungen Mann nicht ansprechen. Er sei etwa so groß wie Stephan gewesen, schlank, dunkel gekleidet, trug eine sehr weite, schwarze Jacke. Auf dem Kopf hatte er eine schwarze Wollmütze. Aber im Nacken seien rötliche Haare zu erkennen gewesen. Stephan atmete auf. Florian Sauer! Es könnte Florian Sauer gewesen sein! Das war immerhin eine Spur. Er bedankte sich und verließ den Laden.
Auf dem Weg ins Präsidium probierte er, Maren auf dem Handy zu erreichen. Abgeschaltet. Er wählte die Festnetznummer. Julia meldete sich.
»Mama hat sich hingelegt. Ich soll sie nicht stören.«
»Ist sie krank?«
»Keine Ahnung. Sie sagt ja nie etwas.«
»Richte ihr aus, dass ich sie später noch einmal anrufe. Ach ja – und dass ich heute nicht kommen kann, es wird hier länger dauern und …«
Julia unterbrach ihn. »Ich kann ihr nichts ausrichten. Gleich holt mich Kathi aus meiner Klasse ab. Ich bin über das Wochenende bei ihr, bis Mittwoch sogar. Schreib ihr doch eine SMS ! Es klingelt. Tschüs.«
Aufgelegt. Stephan starrte auf das Handy in seiner Hand. Dann schrieb er mit wenig Hoffnung eine SMS . Die von gestern hatte sie noch nicht beantwortet. Aus welchem Grund hatte sie Julia so lange bei der Freundin untergebracht. Oder war das Zufall?
»Wo bleibt eigentlich Hölzinger?
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