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Das vierte Opfer - Roman

Das vierte Opfer - Roman

Titel: Das vierte Opfer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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hinkriegen, die sie nicht immer nur rein- und rausgehen lassen, bis sie schließlich an einer Überdosis oder einer schmutzigen Kanüle sterben. Den einen oder anderen noch hinkriegen. Also – wir hatten Kontakt, guten Kontakt, wir besuchten sie, es ging ihr gar nicht so schlecht. Es gab wieder einen kleinen Hoffnungsschimmer, aber nach ein paar Monaten erfuhren wir, daß sie abgehauen war ... es dauerte, es dauerte schrecklich lange, bis wir einen Hinweis bekamen, daß sie in Selstadt sein könnte. Trieckberg liegt ein ganzes Stück weit
entfernt davon. Ich fuhr dorthin und suchte ... nach ein paar Tagen hatte ich eine Adresse erfahren und fuhr dorthin. Das war vielleicht eine Bude – nun ja, ich habe schon einiges gesehen, aber ich habe wohl noch nie jemanden in schlimmerem Zustand gesehen als Brigitte und die andere Frau da in Heinz Eggers’ Stall – so nannte er es selbst. Stall. Er dachte wohl, ich käme, um ein billiges Stündchen mit einer seiner Huren oder allen beiden abzureißen. Vielleicht hatte er ja auch noch mehr...«
    Er schwieg.
    »Was hast du gemacht?« fragte sie nach einer Weile.
    »Ich habe ihn geschlagen. Habe ihm eins aufs Maul gegeben. Ich konnte nicht anders. Er verschwand. Ich telefonierte nach einem Krankenwagen und brachte die beiden ins Krankenhaus... sie starb drei Wochen später. Gitte starb im Krankenhaus von Selstadt. Entschuldige, aber ich bin zu müde, um in Details gehen zu können.«
    »Wie?«
    Er wartete erneut und sog die letzten tiefen Züge aus seiner Zigarette. Ließ sie auf den Boden fallen und trat die Glut mit dem Fuß aus.
    »Hat sich die Halsschlagadern aufgeschnitten und ist aus dem siebten Stock gesprungen – sie wollte ganz sicher gehen. Das war am 30. September. 1993. Sie ist siebenundzwanzig Jahre alt geworden.«
     
    Diesmal blieb er länger sitzen.
    Er saß in dem üblichen Abstand, drei, vier Meter von ihr entfernt in der Finsternis und atmete schwer. Keiner von beiden sagte etwas, ihr war klar, daß es nichts mehr hinzuzufügen gab. Er war jetzt fertig.
    Die Rache war vollzogen.
    Die Geschichte war erzählt.
    Es war vorbei.
    Sie blieben im Dunkeln sitzen, und sie hatte das Gefühl,
als wären sie nur zwei Schauspieler, die noch auf der Bühne geblieben waren, obwohl der Vorhang schon längst gefallen war.
    Was geschieht jetzt? überlegte sie. Was kommt danach?
    Was tut Horatio nach Hamlets Tod?
    Leben und die Geschichte noch einmal erzählen, wie von ihm erwartet wird?
    Durch eigene Hand sterben, wie er es will?
    Schließlich traute sie sich zu fragen:
    »Was willst du jetzt machen?«
    Sie konnte hören, wie er zusammenzuckte. Vielleicht war er auch einfach eingeschlafen. Eine unendliche Müdigkeit schien ihn zu umgeben, und sie spürte, daß sie ihm am liebsten einen Rat gegeben hätte.
    Eine Art Trost. Aber den gab es natürlich nicht.
    »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich habe getan, was ich tun mußte. Ich brauchte ein Zeichen. Mußte auf ein Zeichen warten ...«
    Er stand auf.
    »Welcher Tag ist heute?« fragte sie plötzlich, ohne zu wissen, warum.
    »Es ist nicht Tag«, antwortete er. »Es ist Nacht.«
    Und dann verließ er sie wieder.
    Ich lebe noch, dachte sie überrascht. Und die Nacht ist die Mutter des Tages ...

50
    Van Veeteren ging als erster.
    Bahnte sich einen Weg durch das Dunkel, das sich langsam etwas lichtete. Ein schmaler Streifen eines grauen Tages hatte sich unter den Bäumen hindurchgeschoben, aber es war noch zu früh, um etwas anderes als grobe Konturen, Lichtwechsel und Schattenspiele zu unterscheiden. Immer noch dominierte
der Laut über das Licht, das Ohr über das Auge. Ein Wirrwarr leisen Prasselns und schwacher Insektengeräusche zog sich vorsichtig vor ihren Schritten zurück. Eigenartiger Ort, dachte Münster.
    »Immer mit der Ruhe«, hatte Van Veeteren sie ermahnt. »Es ist besser, wir kommen eine Viertelstunde später, ohne bemerkt worden zu sein.«
    Endlich bogen sie um die Ecke und kamen auf die Steinplatten. Der Hauptkommissar schob die Tür auf. Sie quietschte leise, und Münster konnte seine Unruhe spüren, aber innerhalb einer halben Minute waren alle drinnen.
    Aufteilung. Zwei die Treppe hinauf. Er selbst und Münster nach unten.
    Im Stockfinsteren schaltete er seine Taschenlampe ein.
    »Es ist nur eine Vermutung«, flüsterte er über die Schulter, »aber mich soll der Teufel holen, wenn ich nicht recht habe!«
    Münster nickte und blieb ihm dicht auf den Fersen.
    »Guck mal!« rief Van Veeteren aus und

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