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Das vierte Opfer - Roman

Das vierte Opfer - Roman

Titel: Das vierte Opfer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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Doch damals wußten wir nichts davon. Wir kümmerten uns nicht darum, wollten sie nicht überwachen. Sie mußte es selber wollen, wir könnten es ihr nicht abnehmen, hatte uns ein scheißwichtiger und neunmalkluger Sozialarbeiter erklärt. Also hielten wir uns im Hintergrund, im verborgenen, wozu es verdammt noch mal auch immer gut sein mochte. Ja, da wohnte sie also den ganzen Frühling über, und wir dachten, sie käme zurecht, aber ihre Einkünfte, das Geld, das sie für Dinge brauchte, von denen wir dachten, sie würde sie nicht mehr nehmen, ja, das kam von solchen Menschen wie Ernst Simmel. Ernst Simmel ...«
    Er verstummte und zog an seiner Zigarette. Sie folgte dem glühenden Punkt und hätte plötzlich selbst gern eine geraucht.
Vielleicht würde er ihr sogar eine geben, wenn sie fragte, aber sie traute sich nicht.
    »Eines Abends Ende April fuhr ich aus irgendeinem Grund zu ihr hin. Ich war so gut wie nie dort gewesen, seit sie eingezogen war. Ich weiß nicht mehr, was der Grund war, es kann jedenfalls nichts besonders Wichtiges gewesen sein, und es entfiel mir auch sofort, als ich dort ankam...«
    Neue Pause, die Zigarette glühte. Er hustete ein paarmal. Sie lehnte den Kopf gegen die Wand und wartete. Wartete und wußte.
    »Ich klingelte. Doch die Klingel war offensichtlich kaputt, also versuchte ich, die Klinke herunterzudrücken ... es war offen, und ich ging hinein. Ging in den Flur und schaute mich um. Die Schlafzimmertür war nur angelehnt ... ich hörte Geräusche und mußte einfach hineinsehen. Ja, und so bekam ich zu sehen, wie sie sich ihr Geld verdiente ...«
    »Simmel?« flüsterte sie.
    »Ja.«
    Erneutes Schweigen. Er räusperte sich wieder und rauchte wieder. Drückte die Kippe auf dem Boden aus und zertrat die Glut mit dem Fuß.
    »Als ich da in der Türöffnung stand, trafen sich unsere Blicke. Sie sah mich direkt über die Schulter dieses Ekels an – sie stand an die Wand gepreßt da. Ich glaube, wenn ich in diesem Moment eine Waffe gehabt hätte, eine Axt oder ein Messer oder was auch immer, dann hätte ich ihn schon damals getötet. Vielleicht war ich aber auch einfach viel zu betroffen ... diese Augen, Brigittes Augen, als sie diesen Mann an sich heran ließ, das war der gleiche Blick, den sie schon einmal gehabt hatte. Ich erkannte ihn sofort wieder, damals war sie sieben, acht Jahre alt gewesen, und es mußte das erste Mal gewesen sein, daß sie hungernde, sterbende Kinder sah und begriff, worum es da ging ... eine Fernsehreportage aus Afrika. Die gleichen Augen waren das, die mich da ansahen. Die gleiche Verzweiflung. Die gleiche Machtlosigkeit gegenüber dem
Bösen auf der Welt. Ich ging nach Hause, und ich glaube, ich habe einen ganzen Monat lang nicht geschlafen.«
    Er schwieg und rauchte wieder.
    »War das in dem Jahr, als Simmel nach Spanien gezogen ist?« fragte sie und bemerkte verwundert, wie groß ihre Neugier immer noch war. Daß sie seinem Bericht zuhörte und daß es sie berührte, als wäre es ihre eigene Wunde, daß ihre eigene, ganz persönliche Lage und Verzweiflung vielleicht doch nichts anderes war als ein Spiegel, als ein Symbol von irgend etwas unendlich viel Größerem.
    Von dem totalen, ewigen Leiden in der Welt?
    Dem Übergewicht des Bösen?
    Oder ist das nur wieder dieser verfluchte Starrsinn, von dem alle reden, dachte sie. Der Starrsinn und diese doppelbödige Stärke ... und mein ewiges Aufschieben dieser Sache mit dem Kind.
    Konnte es sowohl das eine als auch das andere sein? Die gleiche Sache, wenn man es genau betrachtete?
    Und wenn dem so war – was, zum Teufel, spielte es dann für eine Rolle? Ihre Gedanken verloren sich, und sie konnte den Faden nicht wiederfinden. Sie faltete die Hände, aber nach nur wenigen Sekunden konnte sie sie nicht mehr spüren. Sie schliefen ein und verschwanden, in der gleichen unerschütterlichen Art wie ihre eitlen Anstrengungen, einen Gedankengang weiterzuverfolgen.
    »Ja«, sagte er schließlich. »Das war in dem Jahr. Er verschwand in dem Sommer – kam diesen Frühling zurück, wie die anderen. Das mußte doch ein Zeichen sein, wenn alle nur mit ein paar Wochen Zwischenraum hier in der Stadt auftauchten. Komm mir nicht und behaupte, das wäre nur ein Zufall. Das war ein Zeichen von Gitte. Von Gitte und Helena, das ist doch so verdammt klar, daß man es gar nicht übersehen kann... Wird das jemals jemand begreifen?«
    Plötzlich lag eine schneidende Schärfe in seiner Stimme. Eine gekränkte Empörung. Als

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