Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
er es einfach nicht schaffte, die Hand anzuheben.
»Was glaubt Ihr eigentlich, warum ich Euch vorhin schon gefüttert habe?«, bemerkte sie kopfschüttelnd und schob ihm das Gebäck in den Mund. »Ihr musstet ja unbedingt die ganze Zeit so heldenhaft tun, als wenn nichts wäre, und wart dadurch so gut wie tot, als wir endlich hier ankamen. Großmutter fragte mich sogar, warum ich ihr eine Leiche anschleppe.«
»Schmeckt wirklich sehr gut.« Er sah sie plötzlich ernst an. »Es war sicher nicht leicht für Euch. Warum habt Ihr das getan? Warum habt Ihr mir das Leben gerettet, Juna?«
Sie zog gelangweilt die Schultern hoch. »Weil Ihr im Fluss meins gerettet habt. Ich bin nicht gern etwas schuldig. Gebt Euch jetzt nur nicht der Hoffnung hin, aus mir wäre ein guter Mensch geworden. Der Tag, an dem das geschieht, wird mein letzter Tag auf Erden sein. Ich kann Euch nach wie vor nicht leiden, aber unsere Kräfte werden wir unter gerechten Bedingungen messen.«
Bei ihren Worten legte sie ihm bereits die Hand auf die Stirn. »Nur noch leichtes Fieber. Wenn Ihr macht, was wir Euch sagen, und trinkt, was wir Euch geben, werdet Ihr schnell wieder auf die Füße kommen.«
»Und dann?«
»Werden wir sehen, Hauptmann.« Fast brüsk wandte sie sich ab, und er sah ihr gedankenverloren hinterher. Doch es dauerte nicht lange, bis er erneut einschlief.
Er erwachte von lautem Klappern.
Juna trug gerade eine Waschschüssel zum Bett und legte Tücher bereit. »Ihr habt immer noch leichtes Fieber und wieder ziemlich geschwitzt. Zeit für eine Wäsche«, erklärte sie munter.
Er hob versuchsweise die Arme an und brachte sie schon etwas hoch. Mit einem tiefen Seufzer ließ er sie wieder fallen. »Es tut mir leid, aber ich fürchte, das schaff ich noch nicht.«
»Das hatte ich auch nicht angenommen.« Sie grinste ihn sichtlich erheitert an, und ihre Augen funkelten. »Aber Ihr habt ja uns.«
Helles Lachen perlte in ihr hoch, als sie seinen entgeisterten Gesichtsausdruck sah. »Ihr seid doch wirklich zu niedlich. Als Ihr glaubtet, ich würde Euch zu Tode foltern, habt Ihr keine Miene verzogen, aber jetzt seht Ihr aus, als würdet Ihr am liebsten aus dem Haus flüchten, wenn nötig auf allen vieren. Keine Sorge, Großmutter wird es machen. Ich gehe derweil auf die Jagd.«
Die Aussicht erschien ihm auch nicht gerade verlockend, aber auch kleine Geschenke nahm er mittlerweile dankbar an.
Die Alte kam in diesem Augenblick in die Hütte geschlurft und legte Kleidungsstücke auf den Tisch. »Ich konnte Fischer Merte Hemd und Hose seines ertrunkenen Sohnes abschwatzen. Nicht gerade das, was du wohl gewöhnt bist, Jungchen, aber immer noch besser als nichts. Juna, Kind, besorge uns jetzt einen saftigen Braten und sieh, ob du vielleicht doch noch Nachtblüte finden kannst!«
»Mach ich, Großmutter. Unser tapferer Hauptmann möchte im Übrigen lieber von dir gewaschen werden, er ist nämlich ausgesprochen empfindlich in Bezug auf die Einhaltung der guten Sitten.«
Sie warf ihm einen kurzen, aber sehr mutwilligen Blick zu, bevor sie fortfuhr: »Er weiß ja nicht, wer ihn ausgezogen hat und wie oft ich ihn in den letzten Tagen schon gewaschen habe. Besser, wir behalten das für uns.«
Sie wandte sich zur Tür und lachte erneut, als sie sein entnervtes Stöhnen hörte.
Marlena kam zum Bett und schüttelte lächelnd den Kopf. »Sie war schon immer schalkhaft.«
»Schalkhaft?«, brummte er ungehalten. »Eure Enkelin ist ein gemeingefährliches Biest.«
Diese Einschätzung wurde im Laufe des Tages immer wieder bestätigt.
Juna ließ nicht die kleinste Gelegenheit aus, ihn zu ärgern oder zu reizen. Rock und Bluse, in verwaschenem Grau und aus den Beständen ihrer Großmutter, waren zwar alt und schlicht, aber die Hexentochter brachte sie mit ihren üppigen Rundungen und ihrem einzigartigen Hüftschwung wunderbar zur Geltung. Während sie ihn fütterte, musste er sich schon sehr anstrengen, um nicht dauernd in ihren tiefen Ausschnitt zu sehen, ebenso, als sie voller Hingabe und mit blitzenden Augen den Verband wechselte und eine Kräutersalbe in seinen Arm knetete. Ihm fiel schnell auf, dass sie ihre Hingabe nicht etwa darauf verwandte, möglichst gefühlvoll zu sein, sondern vielmehr darauf, ihm endlich einen Schmerzenslaut zu entlocken. Doch den Gefallen tat er ihr nicht, und nach ihrer liebevollen Behandlung hatte er Schwierigkeiten, seine verkrampfte Kiefermuskulatur wieder zu entspannen. Sie tröstete sich dann offensichtlich
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