Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
Nordmänner entweder zu überzeugen, notfalls auch einzuschüchtern, war nach wie vor der heimliche Fürst des Nordens, und Martha war seine beste und wohl auch einzige Freundin. Sie waren wie Geschwister aufgewachsen, trafen sich regelmäßig, und bei sehr verstockten Gefangenen holte er sie gern zur Befragung dazu. Marthas Überredungskunst konnte niemand auf Dauer widerstehen.
Die Königin nickte versonnen und stimmte deren Vorschlag zu. »Das ist ein guter Gedanke, aber Vater Ligurius soll umsichtig zu Werke gehen. Lieber verliere ich den Prinzen an Camoras Wölfe, als dass ich Gefahr laufe, das Misstrauen des Schwarzen Fürsten zu schüren. Ich habe sein widerliches Gelächter bei unserem letzten Treffen immer noch in den Ohren.«
»Wenn es uns gelingt, den Weisen zu bekommen, und der die geheimen Schriften entschlüsseln kann, wird unser Gelächter das Letzte sein, was Camora in dieser Welt hört«, nuschelte Martha kauend und ohne hochzusehen, während Messer und Gabel unermüdlich über den Teller fuhren. »Und glaube mir, er wird es lange hören, weil ich dafür sorgen werde, dass er langsam stirbt. Dabei wird er lernen, wie viele Knochen ein Mensch hat, die gebrochen werden können, und wie viele Sehnen ein Mensch hat, die durchtrennt werden können, und ihm wird klarwerden, wie unglaublich viel Haut ein großer Mann hat, die zunächst verbrannt und dann abgezogen werden kann.«
Ayala schüttelte sich kurz, aber heftig. »Manchmal bist du mir unheimlich. Ich …«
Sie brach ab, weil Hylia in diesem Augenblick die nahezu deckenhohe Tür öffnete. Ihr weißes Gewand war zerknittert, Strähnen hatten sich aus ihrem rehbraunen Haarknoten gelöst. Die junge Priesterin schleppte sich dahin, als hätte sie Schwerstarbeit verrichtet, verbeugte sich knapp und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie sah müde und abgekämpft aus und schüttelte den Kopf, als Martha den Weinkrug hob, um ihr einzuschenken. »Danke, außer schlafen will ich gar nichts mehr. Unsere Ablösung ist jetzt auf der Suche, aber ich rechne nicht damit, dass sie etwas erreicht. Ich habe in Erwägung gezogen, dass er tot ist.«
Ayalas Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Hältst du das für wahrscheinlich?«
»Ich kann es nicht sagen. Entweder das, oder er hat bemerkt, dass wir ihn suchen, und sperrt sich nun gegen uns. In diesem Fall können wir ihn nur im Schlaf überraschen.« Müde rieb sie sich die Augen.
»Warum stellt ihr dann die Suche nicht tagsüber ein und spart eure Kräfte?«, fragte Martha. Da sie genau wie Ayala Schwierigkeiten damit hatte, zu Fremden eine Verbindung aufzubauen, wusste sie nur wenig über die Anstrengung, die damit verbunden war.
»Zum Ersten, weil ich nicht weiß, wie seine Schlafgewohnheiten sind, zum Zweiten, weil die Abwehr den Prinzen genauso viel Kraft kostet wie uns die Versuche einer Verbindung«, erklärte Hylia. »Im Gegensatz zu ihm können wir uns gegenseitig ablösen. Da wir ihn einmal erreicht haben, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis er zusammenbricht und wir ihn wiederfinden. Es hat mich nur gewundert, dass er über die Fähigkeit verfügt, uns abzuwehren. Dieses Können setzt schließlich eine gewisse magische Veranlagung voraus.« Sie sah von Martha zu Ayala und zuckte die Achseln. »Immer vorausgesetzt, er lebt noch.«
»Hast du ihn während der Verbindung gesehen?«, wollte Martha wissen.
Hylia schüttelte den Kopf und verbarg ein Gähnen hinter ihrer Hand.
»Und wie kommst du auf den Norden?«
»Weil ich Kälte gespürt und einen bestimmten Geruch wahrgenommen habe: den Duft von Angus-Bäumen. Nur im hohen Norden gibt es diese Bäume.«
Ayala verzog ihr Gesicht zu einem kleinen Lächeln, beugte sich zur Seite und tätschelte Hylias Arm. »Dein Gespür ist unübertrefflich, Kind. Sag mir daher ehrlich und ganz unverbindlich: Denkst du, er lebt noch?«
Die zuckte erst die Achseln, dann nickte sie verhalten. »Mein hochgelobtes Gespür sagt mir zurzeit rein gar nichts, wie ich zugeben muss, aber es wäre schon ein verrückter Zufall, wenn er ausgerechnet kurz nach unserer ersten Verbindung gestorben wäre, oder?«
Die Königin sah kurze Zeit in die warmen, braunen Augen der jungen Priesterin, streichelte noch einmal deren Arm und lächelte erneut, diesmal allerdings verkrampft. »Das wäre es in der Tat. Geh jetzt schlafen!«
Hylia erhob sich umgehend, verneigte sich und schlurfte aus dem Zimmer.
Ihre Gebieterin wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, bevor sie sich
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