092 - Schreie aus dem Sarg
Chet Bosco nahm eine Prise Kokain. Er verwendete dazu ein Gabelröhrchen, das wie ein Y aussah, steckte sich die beiden Enden in die Nasenlöcher und holte tief Luft.
An die Dealer-Regel: Nimm nie etwas von deinem eigenen Zeug! hielt sich Bosco nicht. Er wußte, daß der Stoff ihn eines Tages kaputtmachen würde, aber es war ihm egal.
Männer wie er sollten nicht zuviel an die Zukunft denken, denn sie hatten meist gar keine.
Bosco kam aus der dreckigsten Ecke von Soho. Es war nicht leicht für ihn gewesen, sich hochzukämpfen, aber er hatte es mit eisernem Willen und zäher Vitalität geschafft.
Er war im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen gegangen, und er erledigte auch heute noch Leute, die ihm unbequem waren, manchmal selbst.
Bosco war ein schmaler Windhund mit traurigen Augen. Er legte großen Wert auf teure Kleidung, trug mit Vorliebe weiße, schillernde Samtanzüge und schwarze Ausschlaghemden.
Man sollte sofort sehen, daß er kein armes Schwein mehr war, deshalb trug er an jedem Finger einen Ring und mehrere Goldketten um den Hals.
Daß er wie ein reicher Zuhälter aussah, wagte ihm niemand zu sagen, aber es war eine Tatsache, und seine rüpelhaften Manieren waren in den Lokalen, in denen er verkehrte, gefürchtet.
Er hing nicht sehr an seinem Leben. Nur eines war für ihn von Wert: seine Schwester Petula. Er vergötterte sie, und er wollte, daß sie ganz nach oben kam. Einen Platz in der Londoner High Society wollte er ihr verschaffen, aber sie war zu dumm. Sie begriff einfach nicht, daß sie, um dieses Ziel zu erreichen, nicht mit jedem kleinen Gauner ins Bett gehen durfte.
Chet Bosco hatte seine liebe Not mit seiner mannstollen Schwester. Wenn sie ein Mann mit feurigen Augen begehrend ansah, brannten bei ihr sofort alle Sicherungen durch, und sie verlor das bißchen Verstand, das sie hatte.
Seit zwei Tagen war sie spurlos verschwunden. Bosco hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie zu finden. Es war möglich, daß Leute, die ihm nicht wohlgesinnt waren, sich an der Kleinen vergriffen hatten.
Es war bekannt, daß man ihn auf diese Weise am schmerzhaftesten treffen konnte. Es war aber auch klar, daß sich jeder eine Himmelfahrts-Fahrkarte kaufte, der es wagte, sich an Boscos Schwester zu vergreifen.
Zwei Männer befanden sich bei Chet Bosco. Sie hatten in Erfahrung gebracht, wo sich Petula befand.
Der Gangsterboß stand langsam auf und kam hinter seinem großformatigen Schreibtisch aus Palisanderholz hervor.
»Okay, Männer, sagt mir, wo sie ist. Wo hat sich dieses Miststück versteckt?«
»Sie ist in Southend on Sea, Boß.«
»Mit wem?«
»Mit Roc Natwick.«
Blanker Haß funkelte in Boscos Augen. »Mit Roc Natwick«, wiederholte er knurrend wie ein hungriger Wolf. »Er muß meschugge sein. Er weiß doch, was er damit aufs Spiel setzt.«
Boscos Männer schwiegen. Ihrer Ansicht nach traf Natwick keine Schuld. Petula war ein Luder. Wenn sie einen Mann haben wollte, bekam sie ihn auch.
Es hatte bisher noch keinen Kerl gegeben, der ihren Verführungskünsten nicht erlegen wäre. Die meisten von ihnen lebten nicht mehr. Chet Bosco hatte sie »aus dem Verkehr gezogen«, wie er das nannte.
»Wir fahren!« sagte er jetzt rauh zu seinen Männern. »Nach Southend on Sea!«
***
»Auf Wiedersehen, Tony«, sagte Pater Severin.
Ich drückte seine handkoffergroße Pranke. Der Priester war wieder der alte. Ich hatte meinen guten Freund, diesen wackeren Streiter für das Gute, wieder.
Terence Pasquanell, der Werwolfjäger aus den kanadischen Rocky Mountains, hatte mit seinem geheimnisvollen Wissen das schier Unmögliche geschafft - die Rettung Pater Severins. Und jetzt war er selbst ein Opfer der Hölle geworden.
»Wie geht es nun weiter?« fragte mich der große, kräftige Gottesmann.
Ich seufzte. »Keine Ahnung. Irgendwann wird man wohl von Pasquanells Missetaten hören. Bis dahin können wir nichts weiter tun, als zu warten. Ich hoffe, ich werde dabei kein Moos ansetzen.«
»Rufst du mich an, wenn du etwas über Pasquanell erfährst, Tony?« fragte Pater Severin.
»Okay, mach' ich«, gab ich zurück und ließ seine Hand los.
Terence Pasquanell hatte schreckliches Pech gehabt. Er hatte Pater Severin gerettet und war dabei verletzt worden. Wir mußten ihn schnellstens ins Krankenhaus bringen, sonst wäre er verblutet.
Weder Mr. Silver noch ich konnten wissen, daß wir den Werwolfjäger ausgerechnet in eine Klinik brachten, in der ein dämonischer Herzräuber sein Unwesen
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