König Mythor
Horst Hoffmann
KÖNIG MYTHOR
Ein Traum! dachte Mythor immer wieder, und er fürchtete sich vor dem Erwachen. An der Seite des Mädchens Viliala und eines Greises, der sich ihnen nach dem Passieren des östlichen Stadttors zugesellt hatte, ritt Mythor in Leone ein. Menschen säumten die prächtige Straße, standen auf den Stadtmauern und den schlanken Türmen und riefen: »Hoch König Mythor! Es lebe unser neuer König!«
Sie warfen Blumengebinde und geflochtene Kränze. Sie winkten ihm zu und hoben Kinder in die Höhe, so dass sie den sehen konnten, der da im Triumphzug in »seine« Stadt kam, auf dem schwarzen Einhorn und in einem Sattel, der für Könige gemacht war.
Traumhaft wie der Empfang, der Mythor bereitet wurde, war auch die Stadt selbst. Mythor ritt durch hohe Torbögen, die weiß gekalkt waren wie die Mauern und Häuser aus Backstein. Hoch in den Himmel ragten die schlanken Türme und Türmchen, deren Spitzen im Licht der Wintersonne golden glänzten. Traumhaft waren die Menschen mit samtbrauner Haut in ihrer fremdartigen, prunkvollen Kleidung. Mythor sah Frauen in farbenfrohen Gewändern mit herrlichen Stickereien und Männer mit seltsamen Kopfbedeckungen, weiten Hosen und Schuhen aus Samt, deren Spitzen nach oben gebogen waren. Andere trugen einfache Sandalen und bis zu den Knien reichende weiße Gewänder, wieder andere Boleros und Wämser.
Von blumengeschmückten Balkonen hingen kostbare Teppiche und große Leintücher herab, auf denen immer wieder das stilisierte Abbild eines aufgerichteten Löwen zu sehen war, der in einer Vorderpfote ein Pflänzchen hielt.
Mythor tat das, was von ihm erwartet wurde. Obgleich er nichts von dem begriff, was um ihn herum vorging, winkte er zurück, fing Blumengebinde auf und warf sie zurück in die Menge. Männer, Frauen und Kinder bückten sich danach und drückten sie an ihre Herzen.
So groß der Zauber und die Begeisterung waren, die ihn umfingen, konnte Mythor ein Gefühl des aufsteigenden Unbehagens nicht verscheuchen. Er war hierhergekommen, um Schutz vor den Salamitern zu erbitten und weil der Helm der Gerechten ihm diese Richtung gewiesen hatte. Dieser Empfang konnte nicht wirklich ihm gelten. Doch ein Blick in Vilialas Augen war dazu angetan, diese Zweifel vergessen zu machen.
»Du bist gekommen, wie es uns verheißen wurde«, hatte das Mädchen, ein Kind fast noch, zu ihm gesagt. Mit andächtigem Blick hatte sie ihn angesehen und hinzugefügt: »Mein Gemahl!«
Vor dem Stadttor war er ihr zum erstenmal begegnet, und sie zählte bestenfalls fünfzehn Sommer!
Niemand schien vorerst daran zu denken, Mythor aufzuklären, auch Hapsusch, der Greis an seiner Seite, nicht. Aber die Menschen riefen seinen Namen und priesen ihn als Sohn des Kometen.
Weiter ging es durch die breiten Straßen dieser reichen und prächtigen Stadt, einer Insel in einer Welt des Kampfes und der allgegenwärtigen Bedrohung durch die Mächte der Finsternis.
Hatte der Helm der Gerechten ihn deshalb hierhergeführt? Sollte er hier sesshaft werden?
Nein! dachte Mythor, während er den Jubelnden zuwinkte.
Zu vieles lag noch vor ihm, zu viele Aufgaben, zu viele Herausforderungen. Instinktiv fuhr seine Hand zu der Stelle seines Wamses, unter der sich das Pergament mit dem Bildnis Fronjas befand.
In den Jubel der Leoniter mischten sich plötzlich Schreie des Entsetzens, als die Straße vor der von Mythor angeführten Prozession aufbrach. Männer und Frauen wichen in Panik zurück und rissen ihre Kinder mit sich, als der Boden unter ihren Füßen zu beben begann. Doch für viele kam jede Flucht zu spät.
Das prächtige Pflaster bekam Risse. Große Steine wurden in die Luft geschleudert. Das Erdreich teilte sich, und dicke Pflanzenstränge schnellten daraus hervor, biegsam wie Schlangenleiber, und wie Schlangen peitschten sie über die Straße. Pandor scheute. Mythor, der ahnte, was nun kommen würde, riss Alton aus der Scheide. Wer nicht schnell genug aus dem Bereich der peitschenden Stränge gelangte, wurde getroffen und weit davongeschleudert. Schreiende Menschenmassen drängten in Seitenstraßen und flohen in Häuser, die zu Todesfallen wurden. Wo die Stränge gegen Mauern schlugen, stürzten Wände ein. Unter ohrenbetäubendem Krachen kamen Dächer herunter und begruben Dutzende von Fliehenden unter sich.
»Hapsusch!« brüllte Mythor. Der Greis stand fassungslos neben ihm und starrte auf das Bild der Verwüstung. »Hol die Stadtwachen! Dieser ganze Bezirk muss geräumt werden!
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