Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
Wintergebirge überleben sollten, kämen wir doch nie bis zur Quelle. Schon mal daran gedacht? Sie liegt mitten in Camoras Reich, und wir sind zu dritt – dieses Nebelfräulein schon mit eingerechnet!«
»Sie liegt mitten in deinem Reich, und wir werden nicht zu dritt bleiben. Du musst Vertrauen haben in die Weisheit der Götter und in die Stärke der Menschen.«
Rhonan hob den Kopf und lachte auf, aber das Lachen klang nur bitter. »Ich habe früh lernen müssen, nie Vertrauen in irgendetwas oder irgendwen zu haben. Nur so habe ich überlebt.«
»Dann musst du jetzt eben lernen, mit diesem Vertrauen zu überleben!«
Einem erneuten Auflachen folgte erneutes Schweigen. Während der Gelehrte mit den Füßen stampfte und seine Arme rieb, stand Rhonan bewegungslos da.
»Wie willst du überhaupt diese Prinzessin dazu überreden, dir zu folgen?«, fragte er schließlich.
»Gar nicht! Caitlin ist allein. Was sollte sie schon anderes tun, als uns zu begleiten?«
»Damit schickst du sie in den Tod, den auch du finden wirst.«
Ein väterliches Lächeln umspielte Gideons Mund, und seine nächsten Worte klangen ganz selbstverständlich. »Nur, wenn du versagst! Deine Aufgabe wäre es ja, sie und mich zu beschützen. Eine Kostprobe deines kämpferischen Könnens haben wir erleben dürfen. Wenn du uns führst, schrecken mich die vor uns liegenden Gefahren nicht allzu sehr.«
»Nicht?!« Rhonan wusste nicht, ob er lachen oder schreien sollte. Wenn er einen Wolf töten konnte, würde er selbstverständlich auch mit einem Rudel fertig werden! Wenn er Spione besiegen konnte, warum dann nicht auch Horkas oder ganze Heere von Hordenkriegern? Ihm war danach, den einfältigen Gelehrten durchzuschütteln, stattdessen schüttelte er den Kopf und versuchte es mit Nüchternheit. »Ich würde mir zutrauen, euch unversehrt zurück nach Kairan zu bringen, aber zum Göttergipfel … Wie soll das gehen? Du erwartest Unmögliches von mir!«
»Nein, Rhonan, nicht ich! Wir Verianer müssen Camora nicht fürchten. Unser Turm ist sicher, und Gelehrte, die keinem Bündnis angehören, sind niemandes Feind. Die Menschen in Städten und Dörfern erwarten etwas von dir. Seit fünfundzwanzig Jahren leben sie im Krieg. Tod, Angst, Hunger und Unterdrückung sind längst ihre ständigen Begleiter geworden. Allein der Glaube, dass ein da’Kandar-Prinz etwas überlebt hat, was er nicht überleben konnte, und daher die Kraft haben muss, Camora zu stürzen, und der Glaube an die Erfüllung der Prophezeiung gibt ihnen noch die Kraft, um für ihr Morgen zu kämpfen. Du bist die Prophezeiung, Rhonan! Die Menschen hoffen auf dich.«
Ein Ast brach in unmittelbarer Nähe mit lautem Knacken, und Schneestaub hüllte die Männer ein. Gideon war zusammengeschreckt und rubbelte sich die kalten Arme noch heftiger, doch Rhonan machte eine plötzliche innere Kälte derart zu schaffen, dass der Schnee dagegen wie ein warmer Schauer auf ihn wirkte.
Seine Stimme war kaum vernehmbar, als er antwortete: »Dann warten sie vergeblich. Ich kann keine Hoffnung erfüllen, Gideon. Ich bin kein Führer und schon gar kein Retter. … Es war … es war ganz anders. Ich habe nur durch Zufall überlebt … und weil ein Diener mir half.«
Sein Begleiter legte ihm die Hände auf die Schultern, sah ihm fest in die Augen, und seine Stimme war ernst und eindringlich, als er sprach: »Du weißt selbst, dass das Unsinn ist. Diese Nacht hättest du nie durch Zufall überleben können und auch nicht durch die Hilfe eines Dieners. Dein Überleben muss Bestimmung sein. Du bist der Nachfahre der Alten Könige. Es ist an dir, Camora zu vernichten und die Quelle wieder zu versiegeln. Verweigerst du jetzt deine Aufgabe, dann ist das Geschlecht der da’Kandar wirklich tot und wird in Vergessenheit geraten.«
»Meine Familie ist tot. Ich habe sie brennen sehen, und sie ist schon fast vergessen.« Die Stimme war rauh und dunkel, aber nahezu kindlicher Trotz klang durch.
Der Verianer widerstand dem Drang, den jungen Mann vor sich in den Arm zu nehmen, und widersprach zum Wohl der wichtigen Aufgabe: »Glaubst du das wirklich? Dann geh einmal am Jahrestag des Massakers durch Latohor oder El’Maran, durch Lavissa oder ein anderes freies Land oder auch durch weite Teile des Camora-Reiches. In dieser Nacht bleiben die Kamine kalt, keine Kerze brennt, nicht eine einzige brennende Feuerstelle wirst du finden, nicht einmal die berühmten Tabakpfeifen in Lavissa werden entzündet oder die Wegeleuchten
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