Das Geheimnis von Winterset
PROLOG
Mit ausgestreckten Armen rannte sie ihm entgegen, ihr schönes Antlitz angstverzerrt und ihr Mund zu einem Schrei aufgerissen. Der Schrecken stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, und wenngleich er um dessen Ursache nicht wusste, so traf ihr Anblick ihn doch wie ein gewaltiger Schlag und ließ ihn erstarren. Wie angewurzelt stand er da, konnte sich weder bewegen noch die Hand nach ihr ausstrecken, und obwohl sie rannte, als ob sie von Dämonen verfolgt würde, konnte sie ihn nicht erreichen.
Sie rief seinen Namen. „Reed!" Ihre Stimme hallte in den langen dunklen Gängen wider.
Noch immer versuchte sie mit aller Anstrengung, zu ihm zu gelangen. Auf einmal wich sie jedoch vor ihm zurück, als würde eine unsichtbare Kraß sie mit sich ziehen. Er wusste, dass er sie nie erreichen und sie nie wieder sehen würde. Kummer, Angst und Schmerz ließen ihn am ganzen Körper erbeben.
„Anna!" Reed fuhr hoch, riss die Augen auf und starrte blicklos in die Dunkelheit seines Schlafzimmers. „Anna."
Beim zweiten Mal sprach er ihren Namen leiser, sodass er nur mehr wie ein leidvoll verzagter Seufzer der Verzweiflung klang. Erschöpft sank Reed zurück auf die Matratze. Es war bloß ein Traum gewesen.
Er lag eine Weile wach, sah zu dem hoch über seinem Bett gespannten Baldachinhimmel hinauf und versuchte, seine wirren Gedanken zu ordnen. Nicht zum ersten Mal hatte er von ihr geträumt, und es würde wohl auch nicht das letzte Mal gewesen sein, denn sie hatte ihn bereits unzählige Male bis in den Schlaf verfolgt.
Er hatte wilde, verlangende Träume von ihr gehabt, die ihn erhitzt und außer Atem erwachen und nicht mehr zur Ruhe hatten kommen lassen, und es hatte wütende, verzweifelte Träume gegeben, die voller Schmerz und Leid gewesen waren.
Im Laufe der Jahre hatte er aber immer seltener von Anna geträumt. Eigentlich waren schon Monate vergangen, seit er ihr das letzte Mal im Traum begegnet war. Doch noch nie hatte ein Traum von ihr ihn mit einem solch herzerschütternden Schrecken erfüllt wie der, den er gerade gehabt hatte.
Sie ist in Gefahr. Reed wusste nicht, weshalb er sich dessen so sicher war, aber er wusste es. Etwas ängstigte Anna und bedrohte sie, und die bloße Vorstellung verursachte ihm ein elendes Gefühl der Ohnmacht.
Er setzte sich auf, schob die zerwühlten Laken beiseite und ging zum Fenster. Die Vorhänge waren zurückgezogen, und durch das geöffnete Fenster wehte ein leichter Sommerwind herein, der seine Haut kühlte. Einen Moment blieb er stehen und blickte auf die weitläufigen Gärten von Broughton House. Aus dem Rosengarten drang der betörende Duft hunderter Blumen zu ihm hinauf.
Doch während er auf den mondbeschienenen Garten schaute, waren es weniger dessen ordentliche und gepflegte Beete, die er vor sich zu sehen glaubte, sondern das verwilderte, überwucherte Grundstück von Winterset. Drei Jahre waren nun vergangen, seit er zuletzt dort gewesen war, die Erinnerung daran war ihm allerdings fast so lebendig wie die an Annas Gesicht.
Er schloss die Augen und spürte, wie die altvertraute, bittere Traurigkeit über ihn kam. Deutlich sah er Annas tiefblaue Augen und ihr fein geschnittenes herzförmiges Gesicht vor sich, das von einem wilden Schopf hellbrauner Locken gerahmt wurde, in denen einzelne goldene Strähnen aufleuchteten. Ihr Mund drückte Entschlossenheit aus, und die Mundwinkel waren leicht nach oben gezogen, was ihr stets den Ausdruck verlieh, als würde sie alles auf der Welt ein wenig amüsieren. Als er sie das erste Mal gesehen hatte, wie sie im Garten von Winterset stand, ihm entgegenblickte und dabei mit einer Hand ihre Augen vor der Sonne schützte, war er wie vom Schlag gerührt gewesen und hatte sofort gewusst, dass dies die Frau war, die er für den Rest seines Lebens lieben würde.
Er bedauerte immer noch, dass er damals recht gehabt hatte - weil die besagte Frau leider nicht dasselbe für ihn empfand.
Seufzend wandte Reed sich vom Fenster ab und ließ sich in einen Sessel sinken. Er stützte seine Ellbogen auf die Knie und fuhr sich mit beiden Händen durch sein dichtes dunkles Haar.
Nach drei Jahren, so dachte er sich, sollte der Schmerz eigentlich nachlassen. Nur war davon nichts zu merken.
Zwar litt er nicht mehr dieselben Qualen, die er während der ersten Monate seiner Rückkehr nach London empfunden hatte - kurz nachdem Anna seinen Antrag abgelehnt hatte -, doch ganz in Ordnung war seine Welt danach nicht mehr gekommen. Keine Frau hatte
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