Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
in den Städten. Aber in allen Häusern beten Menschen bis zum Morgengrauen und bitten die Götter darum, den Prinzen zu behüten, der diese Nacht des Grauens überlebt haben soll. Camora versucht seit Jahren, diesen Brauch zu verbieten, droht die härtesten Strafen an, aber die Menschen trauern trotzdem Jahr für Jahr um deine Familie und beten Jahr für Jahr für dich. Deine Familie ist Erinnerung an eine friedvolle Vergangenheit, und du bist ihre einzige Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft.«
Rhonan starrte blicklos vor sich hin. Angst erschwerte ihm das Atmen, legte sich schwer auf seine Brust … Angst nicht etwa vor den Gefahren des Wintergebirges, auch nicht Angst vor Camora und seinen Schergen … Angst vorm Sterben hatte er nicht mehr, seit er hatte zusehen müssen, wie neben Hunderten auch seine Familie erschlagen und verbrannt wurde. Er hatte mit ihnen gelitten, um sie getrauert und um sie geweint, und als die Jahreszeiten wechselten und seine Verbrennungen nicht heilten, hatte er sie nur noch beneidet. Nein, Feinde, Kämpfe, Gefahren, die fürchtete er genauso wenig wie den Tod. Er fürchtete sich vor Verantwortung, der er nicht gerecht werden konnte, vor Erwartungen, die er nicht erfüllen konnte. Er war kein Held in blinkender Rüstung, er war ein Gossenkämpfer. Er sah sie vor sich, die Menschen, die angeblich voller Hoffnung auf ihn warteten, sah, wie ihre Hoffnung in Enttäuschung umschlug, sah die Fürsten und Generäle vor sich, wie sie ihn ansahen, so wie Caitlin ihn ansah: herablassend und voller Verachtung! Er hatte keine Ahnung von Politik und Kriegsführung. Was würde er ernten außer Hohn und Spott? Und das sollte er auf sich nehmen, um um einen Thron zu kämpfen, den er nie hatte besteigen sollen und den er nicht wollte? Er als Retter? Er hatte noch nie jemanden retten können, er konnte nur überleben … durch Zufall, wegen eines Fluchs, … oder aufgrund der Gebete? Er hörte die Stimme seines Vaters: Du musst immer dein Bestes geben, Rhonan! Das bist du deiner Herkunft schuldig. Bildete er es sich nur ein, oder hörte er seine Geschwister lachen?
Weder Blick noch Stimme verrieten irgendeine Gemütsregung, als er endlich nickte. »Wenn diese Prophezeiung von den Göttern stammen sollte, dann lachen die sich jetzt krumm. Solche Unterhaltung werden selbst sie nicht allzu oft geboten kriegen. Retten werden wir drei nämlich nichts und niemanden, aber mir zumindest ist es gleichgültig, wo, wann und wie ich sterbe. Wenn das auch für euch gilt, kann es losgehen. Nur, … überlegt es euch gut! Verdammt gut!«
Gideon war nicht wenig erschrocken, weil er spürte, dass der Prinz das nicht nur so dahingesagt, sondern es ganz ehrlich gemeint hatte, und erwiderte: »Im Gegensatz zu dir hänge ich am Leben, bin mir aber sicher, auch überleben zu können. Machen wir uns also sobald wie möglich auf den Weg. Sobald du wieder reiten kannst.«
»Ich konnte gestern reiten, ich kann morgen reiten, ich reite auch gleich.«
»Ja, vielleicht könntest du das sogar. Aber du würdest kaum weit kommen. Und jetzt komm, mein Junge! Wenn ich dich heute noch einmal auf den Füßen sehe, versohle ich dir den Hintern.«
Rhonan blinzelte überrascht, denn so hatte noch nie jemand mit ihm gesprochen, und grinste schließlich. »Ja, Großvater!«
Gideons Entschluss, noch nicht aufzubrechen, erwies sich als richtig. Die Entschlossenheit des Prinzen hielt jedoch bis zum Abend an. Voller Tatendrang, der allerdings weitgehend in der Notwendigkeit, sich irgendwie von seinen Gedanken an Branntwein abzulenken, begründet war, versuchte er, seine Begleiter auf die vor ihnen liegende Aufgabe einzustimmen … besser noch, sie zur Umkehr zu bewegen. Allein seine Schilderungen von steilen, eisigen und ewigen Weiten, in denen sie tagelang gefangen wären, verursachten Gideon eine Gänsehaut, obwohl sie sich um das munter prasselnde Lagerfeuer versammelt hatten.
Caitlin, die gelangweilt auf ihren Felldecken kauerte, erklärte lapidar, sie sei es langsam leid, zu erwähnen, dass sie derart widrigen Umständen nicht gewachsen sei. Es dürfe sich also hinterher niemand darüber beschweren, wenn sie die Strecke nicht bewältigen könne. Ihr Versuch, Gideon doch noch zur Umkehr nach Kairan zu bewegen, scheiterte wie all ihre Bemühungen zuvor. Selbst ihr Geständnis, weder Kampf- noch Heilzauber zu beherrschen, konnte ihn nicht umstimmen.
Äußerlich nahm er diese Neuigkeit gelassen hin, während sich seine Gedanken
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