Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
erkrankt war. Mattalan wusste, dass es für alle weniger beschwerlich gewesen wäre, die kranken Kameraden zurückzulassen, aber er wollte die ohnehin kaum noch vorhandene Moral nicht durch einen solchen Befehl weiter schwächen. Seine Männer brauchten Hoffnung, Hoffnung auf baldige Erlösung für alle. Also ließ er zu, dass aus Rohr Tragen gebaut wurden. Es bestand längst kein Grund zur Eile mehr.
Still wie ein Leichenzug setzte sich die Armee wieder in Bewegung. Sumpfkrähen erwarteten ungeduldig ihren Abzug. Immer wieder wurden Tote von den Tragen ins Moor geworfen und neue Fieberkranke daraufgelegt.
Doch endlich führte der Weg Richtung Osten. Hoffnung keimte auf.
Die Sonne stand an ihrem höchsten Punkt, brannte unbarmherzig auf die schwitzenden Männer nieder, aber die flimmernde Hitze ließ den Blick auf die Hügel zu. Vereinzelt war sogar Jubel zu hören. Der General blickte auf seine zerstochenen und angeschwollenen Hände und bat die Götter darum, dass er zumindest kämpfend den Tod finden würde. War ihm zuvor der Schweiß in Bächen übers Gesicht geflossen, bemerkte er jetzt, dass er glühend heiß, aber völlig trocken war. Auch er hatte Fieber.
Die Kundschafter kamen zurück und brachten schlechte Nachrichten.
Fast hätte der General gelacht: Der Weg in den Osten war eine Sackgasse, führte geradewegs in ein unpassierbares Moorgebiet.
Mattalan ließ erneut Kundschafter ausschwärmen und wusste doch, dass sie längst verloren waren. Die Götter ließen ihn nicht im Kampf sterben. Über ihnen kreisten die Totenvögel, und der General war sich sicher, sie lachen zu hören. Lautlos fiel er vom Pferd.
22. Kapitel
D ie Sonne zeigte sich in ihrer ganzen Pracht, und kaum eine Wolke durchzog das Blau. Der Schnee glitzerte, und der Göttergipfel ragte vor ihnen auf. Gestern hatten sie nur gehofft, auf dem richtigen Weg zu sein, heute, da keine Wolken in den Bergen hingen, wussten sie es: Er war der höchste Berg im Gletschermassiv!
Wie ein umgedrehter gewaltiger Eiszapfen, strahlend und schön, ragte er majestätisch aus seinen flacheren Begleitern heraus.
Gideon empfand Ehrfurcht, sobald er seinen Blick hob und ihn vor sich sah. Allerdings sah er selten hoch, denn der Wind war schneidend kalt und trieb zudem Pulverschnee vor sich her. Im Schutz einiger Felsen, die jetzt zunehmend das endlose Weiß durchbrachen, blieb er stehen, stützte die Hände auf den Knien ab und sah sich nach seinen Begleitern um. Mittlerweile war es so steil, dass selbst die acht Hunde, die den Holzschlitten zogen, nur noch mühsam vorankamen. Seit Caitlin schlafend vom Schlitten gefallen und ein ganzes Stück talwärts gekugelt war, ging Rhonan immer hinten.
»Was denkst du, wie weit es noch ist?«, fragte der Gelehrte, kaum dass die beiden in Hörweite waren. »Ich vertue mich hier ständig mit den Entfernungen.«
Rhonan machte eine vage Handbewegung. »Spätestens morgen Vormittag müssten wir am Fuß des Berges angekommen sein. Morgen müssen wir klettern.«
Caitlin, die in Felle gehüllt auf dem Schlitten saß, gab Geräusche von sich, die Rhonan an ein Huhn erinnerten, und krächzte: »Auf dieses Eisding willst du rauf? Das glaubst du doch selbst nicht, dass wir da hochkommen, oder?«
Rhonan schnalzte mit der Zunge, und die Hunde blieben stehen. »Du behauptest das zwar ständig, aber es war nicht mein Einfall, die Wintergöttin zu besuchen, und ob ich irgendetwas glaube oder nicht, ist völlig unerheblich. Versuchen werden wir es zumindest, oder willst du nach der langen Wanderung einfach unverrichteter Dinge wieder umkehren?«
»Um da hochzukommen, müssten uns Flügel wachsen. Wenn du anders denkst, bist du verrückt«, schimpfte sie.
»Ich denke genauso wenig, wie ich etwas glaube. Fürs Erste ist Gideon zuständig, fürs Zweite du. Ich bin zum Handeln da. Komm jetzt vom Schlitten runter und lass Gideon sitzen!«
Der Verianer warf ihm einen dankbaren Blick zu. Sie waren bereits seit den frühen Morgenstunden unterwegs und hatten nur einmal eine Rast eingelegt. Seine Knie waren weich wie Brei und zitterten, sobald er stehen blieb. Sämtliche Muskeln schmerzten.
»Ich mag und kann aber nicht mehr laufen! Können die Hunde uns nicht beide ziehen?« Weder Caitlins dünne Stimme noch ihr flehender Ausdruck beeindruckten ihren Führer.
»Das hatten wir schon ein paar Mal! Die Hunde ziehen bereits unser Gepäck. Mehr als ein Mensch ist nicht mehr drin. Und bevor du wieder fragst: Nein, ich werde das Gepäck
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