Das wahre Leben
sie gleich vom Spital ab.»
Nevada nickte. «Ich bin froh darüber. Ich wollte sie ja besuchen, aber ⦠Ein paar der Mädchen sind gestern hingegangen, sie haben heute darüber gesprochen. Suleika scheint schnell Kontakte zu knüpfen. Die anderen mögen sie.»
«Ach, wirklich?» Das hatte Erika noch nie gehört. Sie kniete sich nieder, um besser zuhören zu können. Die Kieselsteine bohrten sich in ihre Knie. Sie spürte es und spürte es nicht.
«Sie scheint mir der Typ zu sein, der sich überall zurechtfindet. Eine Weltenbummlerin ⦠so wie du!»
«Wie ich?» Erika musste lachen. «Du kennst mich nicht, das merkt man. Ich finde mich im Gegenteil nirgends zurecht.»
«Den Eindruck machst du aber nicht. Schau dich doch an. Du wohnst seit knapp einem Monat hier und hast schon einen eigenen Stammtisch. In der Migräne kennt man dich, die Leute grüÃen dich, im Laden kannst du anschreiben lassen â¦Â»
«So habe ich das noch gar nicht gesehen.»
«Bist du viel gereist?»
«Nicht wirklich. Nur im Kopf.»
Nevada lächelte. «Du machst doch auch die Illustrationen für Dante, nicht?»
«Genau! Gut, dass du es sagst. Beinahe hätte ich es vergessen! Hast du die Sonntagszeitung abonniert?»
Nevada schüttelte den Kopf. «Dante ist nicht da. Er ist nach Amerika geflogen.»
«Weià ich doch. Hier. Den Streifen wollte er extra für dich vorbereiten. Und ich sollte aufpassen, dass du ihn auf jeden Fall siehst. Das hätte ich um ein Haar vermasselt. Aber zum Glück wärst du fast in mich hineingefahren.» Sie wühlte in ihrer Tasche und fischte einen kartonierten Briefumschlag hervor, auf dem Nevadas Name stand. «Schau, ich hatte es schon vorbereitet! Die gute Absicht war also da. Und wenn ihr das Original haben wollt, sagt es einfach, dann lasse ich es rahmen.» Erika schaute auf die Uhr. «Ich muss jetzt gehen, ich will die S-Bahn noch erwischen.» Als sie aufstand, knackten ihre Knie, als steckten die Kieselsteine in den Gelenken. Sie zog eine Grimasse. «Vielleicht komm ich auch bald zu dir ins Yoga.»
«Aber gern. Ich würde mich freuen.»
Im Gehen blickte Erika über die Schulter zurück. Nevada stand immer noch mitten im Weg, den Umschlag auf dem SchoÃ, ungeöffnet. Ein überwältigendes Gefühl füllte Erika aus. Sie wollte zurücklaufen und Nevada in die Arme schlieÃen. Sie wollte ihr ein Flugticket nach Amerika schenken. Sie wollte ihr sagen, dass sie sie liebte.
Aber erst kam ihre Tochter. Suleika.
Â
2.
Suleika wartete vor dem Eingang auf einem der geschnitzten Holzbänke. Sie saà unter dem Rauchverbotsschild und rauchte eine Zigarette.
«Was ist denn das für eine neue Mode?» So hatte Erika das Gespräch nicht beginnen wollen.
«Wo ist Dad?», fragte Suleika zurück.
Erika schaute sich um, als merkte sie erst jetzt, dass Max nicht gekommen war. «Ich weià es nicht. Willst du ihn anrufen?»
Suleika zuckte mit den Schultern. «Ich wollte eh zu dir.»
Was soll sie auch sonst sagen?, dachte Erika. Es war ja niemand anderes da. Plötzlich war sie unsicher. Sie hatte doch genau gewusst, was sie sagen wollte. Jetzt war alles weg. Das überwältigende Gefühl der Verbundenheit, das sie auf dem ganzen Weg hierher erfüllt hatte, war verschwunden. Suleika warf die nur halbgerauchte Zigarette auf den Boden und trat sie mit ihrem Flipflop aus. Der Stummel blieb in der weichen Gummisohle stecken. Sie streifte die Sandale ab und bückte sich mühsam nach ihr. Tief senkte sie den Kopf über die rosa Gummisohle, in der der Stummel steckte. SchlieÃlich hatte sie ihn entfernt. Sie stand auf und warf ihn in den nächsten Mülleimer. «Was ist, gehen wir?»
«Noch nicht. Suleika ⦠Setz dich doch noch mal. Nur kurz.»
Schwer lieà sich ihre Tochter neben sie plumpsen. «Was ist los? Lass mich raten: Du hast leider keinen Platz für mich ⦠blabla!»
«Nein, Suleika, das ist es nicht.» Sie zögerte. «Gibst du mir eine Zigarette?»
«Im Ernst?»
Erika nickte. Suleika nahm eine frische Packung aus ihrer Tasche. Erst eine fehlte. «Woher hast du die?», fragte Erika.
«Ach, weiÃt du, Mama, es gibt so Einrichtungen, man nennt sie Kiosk, und da â¦Â»
«⦠muss man doch den Ausweis zeigen.»
«Nicht wenn man so dick ist wie ich!» Suleika
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