Das wahre Leben
Vielleicht sollte sie ins Schlafzimmer zurückrollen, auf die andere Seite des Bettes, auf Dantes Seite, und sich einfach aus dem Stuhl fallen lassen. Vielleicht sollte sie ihren Körper das sagen lassen, was sie ihm nicht sagen konnte. Ihr Körper, mit all seinen Einschränkungen, war ihr immer noch vertrauter als ihr Geist.
Stattdessen schaltete Nevada den Computer ein und öffnete ein Suchprogramm. «MS» UND «Behandlungsmethoden». «MS» UND «geheilt». «MS» UND «the Cure».
Und da kam es: Ein Arzt in Italien, der die Multiple Sklerose als Durchblutungsproblem und nicht als entzündliche Krankheit definierte. Er führte eine Operation aus, die die Durchblutung zum Hirn förderte und erzielte damit zwar unterschiedliche, aber ermutigende Resultate. Italien. Nicht weit. Operation. Ungefährlich. Nichts zu verlieren.
Nevada saà ganz still. Sie atmete flach. Sie wollte die Meldung nicht verscheuchen, die hier auf ihrem Bildschirm aufgetaucht war, aus dem Nichts. Und die beim geringsten Lufthauch wieder verschwinden konnte.
Eben noch hatte sie im Bett gelegen und sich vorgestellt, es gebe eine Lösung. Und hier saà sie und hatte sie gefunden.
Warum war sie dann nicht glücklicher?
Warum schrie sie nicht durch die ganze kleine Wohnung nach Dante? Warum erfüllte sie die Vorstellung, sie könnten beide geheilt werden, von ihren Beschwerden befreit, nicht mit mehr Freude? Woher diese Mutlosigkeit, die durch die Nachricht einer möglichen Behandlung noch verstärkt wurde?
Nevada klappte den Laptop zu und starrte in die Nacht. Sie vertraute Doktor Fankhauser. Er hätte ihr von dieser Behandlungsmethode erzählt, wenn er an sie glauben würde. So wie er Dante von den Methoden des Doktor Mizrahi erzählt hatte. Nevada hatte ihre Diagnose akzeptiert. Der Verlauf der Krankheit konnte nicht vorhergesehen werden. Aber auch nicht aufgehalten. Oder gar revidiert. Die Unverrückbarkeit ihrer Diagnose hatte sie erleichtert. Nevada war heimlich stolz darauf gewesen und oft darauf angesprochen worden, wie vorbildlich sie sich mit ihrer Krankheit arrangierte, wie gelassen sie die Diagnose und jede neue Verschlechterung akzeptierte. Sie hatte einen Vortrag gehalten vor der MS-Gesellschaft, eine kleine Einführung in die Prinzipien der Meditation und wie diese ihr half, mit der Krankheit umzugehen. Wie arrogant war sie gewesen! Nun stellte sich heraus: Die Krankheit war gar nicht das Problem. Die Diagnose, die ihre Existenz in den Grundfesten erschüttert hatte, war nicht bis zu ihrem Herzen vorgedrungen.
Die Liebe aufzugeben, nachdem sie sie gerade erst kennengelernt hatte, das brachte sie nicht fertig. Da half nichts. Nicht ihre Ãbung, nicht ihre Erfahrung. Nicht einmal atmen konnte sie mehr. Sie schnappte nach Luft, vergaà das Atmen wieder, bis ihr der Schmerz die Brust zusammenpresste, und schnappte wieder nach Luft.
Sie schaute aus dem Fenster zu dem blinkenden Sender hinüber. Ich weià genau, wie du dich fühlst, dachte sie. Dann hob sie den Arm und winkte hinüber: Ich sehe dich. Du bist nicht allein. Du kannst mich nicht sehen, du weiÃt nicht, dass ich da bin, aber das ändert nichts daran, dass ich hier sitze und dich sehe und froh bin, dass es dich gibt.
Wenn es doch umgekehrt auch so wäre. Wenn sie hier sitzen und einen Trost daraus ziehen könnte, das irgendetwas, irgendjemand da drauÃen war und sie sah und froh war, dass es sie gab.
Da drauÃen? Da drinnen. Vier Meter von ihr entfernt lag Dante mit offenen Augen im Dunkeln. Er sah sie. Er liebte sie. Sie hatte sich gerade erst in diesem Wissen eingerichtet. Konnte sie es wirklich so schnell wieder verloren haben?
Und er?
DrauÃen wurde es hell. Nevada saà immer noch am Fenster. Sie hörte, wie Dante aufstand und ins Bad ging. Ohne sie zu fragen, ob sie das Bad brauchte. Eins der unangenehmsten Symptome ihrer Krankheit war, dass Nevada den Drang, ihre Blase zu entleeren, erst spürte, wenn es schon beinahe zu spät war. Wenn sie merkte, dass sie pinkeln musste, musste sie schon pinkeln. Zu warten, bis das Bad frei wurde, war ein Luxus, den sie sich nicht mehr erlauben konnte. Das separate WC in der Wohnung war zu schmal für den Rollstuhl. Sie kam nur in das groÃe Bad. Und so fragte Dante immer: «Ist es recht, wenn ich kurz ins Bad gehe?» Wenn er duschte, lieà er die Tür offen, so dass sie jederzeit hereinkommen konnte.
Doch
Weitere Kostenlose Bücher