Das wahre Leben

das Metall brannte in ihre Handflächen. Wenn sie aufrecht stand, reichte ihr das Geländer bis zur Brust. In ihren Armen war immer noch Kraft. Kraft genug, sich am Geländer hochzuziehen, sich aufzustützen, über die Kante zu schwingen? Sie schaute hinunter. Der Zeitungsausschnitt war weg. Sie konnte ihn nirgends sehen. Dante hatte ihr eine Botschaft zukommen lassen, und sie hatte sie verloren. Vielleicht lag er auf einem der unteren Balkone? Sie zog sich höher, beugte sich tiefer. Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht. Einen Augenblick lang hing sie in der Luft. Bis ihr Körper zurück auf die sichere Seite kippte. So einfach war das. So leicht konnte man fallen. Nevada zog sich wieder hoch. Sie schaute hinunter. Da war niemand. Aber was, wenn die Kinder zur Schule mussten? Sollten sie über ihre Leiche stolpern? Wollte sie überhaupt sterben? Sie wusste es nicht einmal. Sie wollte nur, dass es aufhörte. Dass der Schmerz aufhörte. Sie konnte nicht innen und außen Schmerzen haben. Morgen war das Quartierfest. Sie musste teilnehmen. Sich zeigen. Lachen, sich bedanken. Alles lief ineinander, alles löste sich auf. Es konnte so nicht weitergehen. Ihr Körper würde immer schwächer, und ihr Herz immer stärker verletzt. Nein, dachte Nevada.
    Sie schaute hinunter, und da meinte sie plötzlich, Dante unten auf dem Weg stehen zu sehen. Die Kapuze seines blauen Pullovers verdeckte sein Gesicht, er stand unten auf dem Weg und breitete die Arme aus. Hatte er nicht versprochen, sie zu halten? Dante würde sie doch auffangen! Seine dünnen Arme würden Nevada halten. Sie zog sich am Geländer hoch, sie stemmte sich dagegen, ließ ihren Oberkörper vornüberfallen.
    Da klingelte es in ihrer Hosentasche. Das Telefon. Nevada zögerte einen Augenblick, auf das Balkongeländer gestützt, dann nahmen ihr ihre Arme die Entscheidung ab. Sie ließ sich in den Rollstuhl zurücksinken. Das Telefon klingelte immer noch. Mühsam klaubte sie es aus der Hosentasche. Unbekannte Nummer.
    Â«Hallo?» Rauschen. Von weit her. Oder von ihrem Balkon? Sie drehte den Stuhl zur Wohnung, weg vom Wind. «Dante?», fragte sie. «Dante, bist das du?»
    Es musste Dante sein. Sie hatte ihn schließlich gesehen.
    Â«Lucy? Hey, Lucy. Bist du da? Lucy, warte auf mich. Ich komme zurück.»

 
    Ãœber die Autorin
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    Milena Moser, 1963 in Zürich geboren, gelernte Buchhändlerin, ist eine der erfolgreichsten Autorinnen der Schweiz. Sie arbeitet journalistisch, tritt in Bühnenstücken auf, betreibt einen Blog und gibt Schreibkurse.
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    Bei Nagel & Kimche erschienen die Kolumnen High Noon im Mittelland (2011), die Romane Möchtegern (2010) und Montagsmenschen (2012) sowie die Neuausgabe des äußerst erfolgreichen Romans Die Putzfraueninsel (2013), 1996 von Peter Timm fürs Kino verfilmt.