Mein Glueck
Vor mir auf dem Tisch liegt ein goldener Stift. Ich mache oft Notizen mit ihm. Er erinnert an eine schlanke, rachitische Säule. Die Kannelierung prägt sich scharf in den Schaft ein und sorgt dafür, dass das schimmernde Gerät beim Schreiben sicher in der Hand liegt. Am oberen Ende ist es abgeplattet und buchtet sich aus. Das lässt an den Kopf eines mächtigen Nagels denken. Doch dieser Kopf ist zerklüftet, so als habe ihn jemand mit den Zähnen bearbeitet. Ich weiß, wer dies tat, lange tat. Es ist der Stift eines der vielen Toten, die in meinem Leben zurückgeblieben sind. Michel Leiris hat mir dieses Selbstporträt vermacht. Die Erinnerung an einen gejagten Mann lässt sich am Zubiss messen, am malträtierten Körper des Stifts, den der einstige Besitzer benagte.
Ich sehe den abgelutschten weggeküssten großen Zeh von Arnolfo di Cambios Apostel Petrus im Petersdom vor mir. Und es sind solche Hinweise auf das »inframince«, das Nichtmehrmessbare, und das, was unter die Schwelle der Wahrnehmung fällt, die einen anderen undurchschaubaren Mann, den ich wenige Jahre nach meiner Ankunft in Paris kennen durfte, Marcel Duchamp, zeitlebens erregten. Es ist wohl kein Zufall, dass er aus Rouen, der Stadt Flauberts, stammte. Hier beließ es auch Monet in seinen Variationen über die Fassade der Kathedrale, die er übrigens nie betreten wollte, bei der Beschäftigung mit der dünnen Haut aus Stein. Das unsichere Licht der verschiedenen Tageszeiten hält alles im Fluss, verhärtet die Fassade oder bringt sie zum Schmelzen. Das Experiment, das Monet mit den Nuancen treibt, hält sich an die Oberfläche, genauso wie Flaubert, der in Madame Bovary der gleichmütig registrierten Genauigkeit, mit der er die Verfärbung des Gesichts im Todeskampf schildert, mehr Aufmerksamkeit schenkt als den seelischen Zuständen.
Und kaum etwas macht mich selbst so begierig wie Spuren. Sie kamen mir aufregender und dramatischer vor als festumrissene Ereignisse. Es war die geheime Neurasthenie der Dinge, die mich schon als Kind lockte, die Beschreibung, die genauer als jede psychologische Beobachtung die Akteure zu erfassen vermag. Ich sehe mich um, spüre dem nach, was andere getan, gedacht und gefühlt haben. Dabei fühle ich fast nur Missvergnügen. Eigentlich blieb das Leben, das ich führte, nach einem tiefen Bruch in der Kindheit, nur am Rande ein eigenes Leben. Ich selbst konnte nicht erwarten, viel mehr zu sein als der Reflex einer ständig von außen an mich herangetragenen Begeisterung oder Depression. Erregung und Hoffnungslosigkeit blieben auf die anderen angewiesen. Doch diese vermochte ich, das kann ich behaupten, auf radikale, ja exaltierte Weise zu verfeinern. Es kam mir stets so vor, als ob ich für immer daneben stünde. Wie dem Trägheitsgesetz unterworfen, hingen solche Stimmungen lange in mir herum. Dazu passte das frühe Gefühl, irgendwie nicht dazuzugehören, etwas zu versäumen, ausgeschlossen zu sein. Mag ich auch viele bedeutende Menschen kennengelernt haben, sie trugen eher dazu bei, dass meine Minderwertigkeitsgefühle wuchsen. Deshalb fühlte ich mich auch nie selbstsicher. Ich suchte nach einer schutzlosen Nähe zu Werken und Menschen. Ich fand sie schließlich bei der Lektüre Kafkas. Dort gab es diese Erniedrigung, die alles, was einen umgab, nur auf sich bezog. Und dann entdeckte ich etwas, was in der Religion, trotz all meiner Anstrengungen, theatralisch fernblieb, die ständige Schuld. Die Lösung dafür, die endlosen Rechtfertigungen Kafkas, haben mich ebenso demoralisiert wie beruhigt. Bereits als Kind wurde ich den Eindruck nicht los, das eigentliche Leben tuschele hinter meinem Rücken. Außerdem habe ich immer die Familien beneidet, in denen Kinder und Eltern zärtlich sein durften. In meiner Kindheit und Jugend hatte ich so gut wie nichts davon mitbekommen. Gewiss hatte dies mit meiner dreist religiösen Erziehung, einer Erziehung zu Angst und totaler Abhängigkeit zu tun. Sie erwartete alles einzig nur von dem, was irgendwie und auf ungenaue Weise später kommen werde. Die Gegenwart blieb daneben so gut wie wertlos. Das passte fabelhaft zur Nachkriegszeit, die so schnell wie möglich Geschichte und Belastung loshaben wollte. Bei vielem könnte mein Bericht einsetzen. Ständig tauchen eingetrocknete Augenblicke auf, die die Spinne der Zeit weißgesogen und in ihrem Netz archiviert hat. Eine meiner verwirrendsten Erinnerungen fällt in die Monate, in denen die Geschwister im Haus und die Lehrer in
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