Das wahre Leben
zusammengestellt. Er lud nur Leute ein, die etwas Sinnvolles taten oder wenigstens etwas Interessantes. An seinem Tisch würde nie ein Schönheitschirurg sitzen. Schweigend schoben sie die Metalltablette zusammen und standen auf. Als Erika auf dem Weg zum Ausgang noch einmal am Stand der hellsichtigen Verkäuferin vorbeischauen wollte, konnte sie ihn nicht mehr finden.
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3.
Erika kontrollierte den Esstisch, den ihre Haushälterin gedeckt hatte. Der Blumenschmuck in der Tischmitte war von einem Floristen geliefert worden. Papageienblumen, zu protzig, zu groÃ. Sie trat auf die Terrasse hinaus und schnitt einige Hortensienköpfe ab. Sie waren grün, mit zarten rosafarbenen Rändern. Erika liebte ihre Hortensien. Sie blühten bis zum ersten Frost. «Tankstellenblumen», nannte Max sie. Aber Gerda hatte sie abgesegnet, Gerda, die Architektin, die die Terrassenhaussiedlung entworfen hatte, in der Erika lebte. Gerda, ihre beste Freundin.
«Du lebst im falschen Haus», hörte sie wieder die Stimme der dicken Inderin. «Es ist kein Haus», wollte sie antworten, wie sie es so oft tat. «Es ist nur eine Wohnung!» Warum war es so wichtig, nicht in einem ganzen Haus zu wohnen? Ihre Wohnung hatte eine eigene Hausnummer, einen eigenen Eingang, acht Zimmer auf drei Stockwerke verteilt. Nur weil zwei weitere, beinahe identische Terrassenhäuser auf demselben Hanggrundstück in bester Lage am Zürichberg standen, wurde ihre Adresse nicht zu der einer Genossenschaftssiedlung.
Wen wollte sie täuschen?
Gerda und ihr Mann Arnold hatten das Land geerbt, auf dem die Häuser standen. Sie gehörten zu Erikas und Maxâ ältesten Freunden. In den achtziger Jahren hatten sie Häuser besetzt, in den Neunzigern ihre Kinder in Genossenschaftswohnungen groÃgezogen. Mit dem Schuleintritt der Kinder wurden plötzlich Kriminalität und Ausländer zu einem Thema. AuÃerdem verdienten alle plötzlich viel Geld. Und irgendwann gab man zu, dass man ein Grundstück am Zürichberg besaÃ, mit einer baufälligen Villa drauf, die nicht dem Denkmalschutz unterstellt war. Trotzdem sahen sie sich immer noch als progressiv, als die Akteure einer Veränderung, als die neue Generation. Als die junge Kultur, auch noch im mittleren Alter. (Mittleres Alter, dachte Erika, war ein trügerischer Begriff. Wenn sie nicht hundert Jahre alt werden wollten, hatten sie das mittlere Alter längst überschritten.) Sie wehrten sich gegen die Zuschreibungen von auÃen, Grundstücksbesitzer, Fabrikdirektor, reiche Erbin. Sie wollten Rebellen bleiben.
Und bequem leben. Das auch.
Zehn Gedecke zählte Erika. Die Nachbarn, Gerda und Arnold, Markus und Susanne, dann Delia Kaufmann, die neue Direktorin des Opernhauses mit ihrer Lebenspartnerin, deren Namen Erika vergessen hatte, und Felix Feilchenfeldt, der Fernsehjournalist, der entweder seine neue Freundin oder seinen erwachsenen Sohn, einen hoffnungsvollen Jungschauspieler mitbringen würde. Erika hoffte auf Letzteres, so dass sie beide Geschlechter gleichmäÃig um den Tisch verteilen konnte. Seit wann interessierte sie so etwas? Und wen kümmerte es? Seit dreiÃig Jahren flirteten Max und sie halbherzig übers Kreuz mit Gerda und Arnold, eine alte Gewohnheit. Den beiden Operndamen würden zwei Herren am Tisch herzlich wenig bedeuten. An diesem Abend ging es vielmehr darum, Bühnenbilder und Garderobe des Opernhauses vermehrt mit Stoffen der Textilfabrik Keiner auszurüsten. Und den Fernsehreporter für einen Dokumentarfilm über Maxâ Projekte mit Arbeiterinnenkollektiven in der Dritten Welt zu interessieren. Um das Interesse des Journalisten würde auch Arnold buhlen, dessen letztes Buch zwar bereits vor mehreren Jahren erschienen war, aber, so dachte Arnold, eine perfekte Vorlage für einen Fernsehfilm liefern würde. Was die Lebenspartnerin der Opernhausdirektorin beruflich machte, hatte Erika nicht herausfinden können. Es war aber anzunehmen, dass sie sich in Zürich standesgemäà niederlassen wollte. Am liebsten in einem von Gerdas preisgekrönten Wohnhäusern, in denen frei werdende Einheiten unter der Hand weitervermietet wurden. Gerda selber wollte von niemandem mehr etwas. Sie hatte es nicht nötig, sich an Erikas Esstisch zu profilieren. Dafür würde sie sich früh verabschieden. Und arbeiten.
Erika nahm die Hortensienköpfe und verteilte sie einzeln in flache
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