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Das War Ich Nicht

Das War Ich Nicht

Titel: Das War Ich Nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristof Magnusson
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würden sie mich in der Bank in Chicago ernst nehmen. Ich war nicht mehr der Anfänger, den die Kollegen Kaffee holen schickten, auch wenn sie gar keinen Kaffee wollten. Diese Schulung bewies, dass Rutherford & Gold an mich glaubte. Nun wurde alles besser. Beruflich. Gab bestimmt auch eine Zeit für das Privatleben. Frau. Kind. Später. Ich war erst 31. Zwischen 30 und 40 muss man brennen.
    Ich schlief ziemlich lange, dann ließ ich mir eine Spielkonsole bringen und schloss sie an den Bildschirm vor mir an. Obwohl das Unterhaltungsprogramm alle möglichen neuen Spiele anbot, entschied ich mich für Tetris. Wie damals, mit fünfzehn, in der computertechnischen Steinzeit. In unserem Hobbykeller in Bochum, wo ich mit meinen Freunden so lange spielte, bis ich beim Einschlafen rotierende Blöcke sah. Damals hatte ich Freunde. Jetzt ist die Karriere dran. Man kann nicht ewig jung sein. Und wenn ich nun bald Erfolg habe, gehe ich bestimmt auch mal mit den Kollegen in Chicago nach Feierabend ein Bier trinken. Dann gehöre ich dazu.
    Plötzlich Druck auf meinen Ohren. War das schon der Sinkflug? Ich hatte doch gerade Level 15 erreicht. Musste es bis Level 18 schaffen. Steine prasselten auf mich ein, ich ließ sie zur Seite gleiten, rotieren. Alle erreichten den Platz, den ich für sie vorgesehen hatte. Level 16. Meine Daumen schossen auf dem Joypad hin und her, rechts, drehen, drehen, rechts, drehen, links, ich musste schneller sein, noch schneller, da wurde der Monitor plötzlich blau. Himmel mit ein paar Wolken. Das Logo von American Airlines erschien, dann machte eine Stewardess die üblichen Ansagen vor der Landung. Ich hämmerte auf sämtliche Knöpfe des Joypads, um das Spiel wieder in Gang zu bringen, doch auf dem Monitor stand nur: Bitte achten Sie auf die Ansage.
    Unter mir die Vorortsiedlungen von Chicago. Große Häuser, Grundstücke, die immer kleiner wurden, je näher wir der Stadt kamen. Vor einem Einkaufszentrum zeichnete ein Fischgrätmuster Parkplätze vor. Alle Konsumenten schliefen noch. Europa war wieder sechs Zeitzonen weit weg, dort, wo es hingehörte, in der Vergangenheit.
    Auf dem Bildschirm vor mir blinkte ein Flugzeug über der Karte von Nordamerika, verbleibende Flugzeit: 0:11 Minuten. Nach meiner Uhr hätten es 14 sein sollen. Die nächsten drei Minuten zeigte der Bildschirm an, dass elf Minuten verblieben. Doch was soll's, ich war eh einen Tag zu früh zurück in Chicago. Eigentlich sollte ich erst morgen wieder zur Arbeit gehen, in die Zentrale von Rutherford & Gold an der LaSalle Street, Händlersaal, Desk 3, Futures und Optionen, an meinen Platz in der 29. Reihe mit den vier Monitoren, zwei unten, zwei oben und darüber ein weißes Schild: Jasper Ludemann; das mit dem ü hatten sie nicht hingekriegt, auf ganz normalem Papier. In eine Plastikhalterung geschoben und jederzeit austauschbar.
    In Chicago machte ich meinen BlackBerry wieder an, und eine Erinnerungsnachricht poppte auf: Heute: Todestag Papi. Ich klickte sie weg. Sentimentalitäten konnte ich mir jetzt nicht leisten. Mein Gepäck schickte ich per Kurier in meine Wohnung und nahm die blaue Linie der Hochbahn Richtung Loop, wie sie hier das Zentrum nannten. Die werden Augen machen: Gestern noch Schulung in London, Networking-Trinken die ganze Nacht, in der Business-Class geschlafen und am nächsten Morgen wieder am Start. Damit bewies ich ein für alle Mal: Es war kein Fehler, dass sie mich vor zwei Jahren aus dem Back-Office in den Händlersaal geholt hatten. Nach vorne. An die Front.
    Für meinen Mitarbeiterausweis hatte ich eine Plastikhülle gekauft. Es war 9:33, als ich ihn an den Sensor legte und sich die Speed-Gates öffneten. Im Fahrstuhl behielt ich ihn gleich in der Hand. Hielt ihn oben an den zweiten Sensor am Eingang zur Drehtür. Das grüne Signal blinkte, ich stellte mich auf die vorgezeichneten Fußumrisse am Boden und wartete auf die halbe Rotation, mit der die Drehtür mich in den Händlersaal brachte. 40 Reihen, ein Organismus aus 600 Menschen, 1.200 Telefonen und Tausenden von Bildschirmen. Bald kam Fixed Income in Sicht, dahinter lag unser Desk, den ich so fest im Blick hatte, dass ich fast mit einer Frau zusammenstieß. Wollte ihr eine Entschuldigung hinterherrufen, da war sie schon bei den japanischen Staatsanleihen verschwunden. Ich war zu langsam! Ich dachte doch, ich hätte ihn endlich abgestellt, diesen schlendernden Back-Office-Gang.
    Mein Teamleiter Alex stand neben unserem Trainee, dem schüchternen Jeff, und

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