Leben um zu lieben (Junge Liebe) (German Edition)
I
Ein neuer Anfang
Wie ich es hasste. Immer um die gleiche Uhrzeit, Punkt neun Uhr achtundvierzig, klingelte mein Wecker mit einem ohrenbetäubenden Lärm. Wie immer schreckte ich von meiner Couch hoch, warf dabei die dünne, gelbe Decke mit hinunter und blickte mich verschlafen im Zimmer um. Ich schlief im Wohnzimmer, da ich nur eine mickrige Einzimmerwohnung besaß, die gerade einmal aus Bad, Küche und eben dem Wohn- oder auch Schlafzimmer bestand. Lediglich ein schmaler Flur trennte die Räume voneinander, die ebenfalls nicht von besonderer Größe waren. Dafür gab es mit der Miethöhe keine Probleme und besonders große Ansprüche hegte ich sowieso nicht. Mit meinen einundzwanzig Jahren war ich bereits arbeitslos und zu einem Waisenrenteempfänger geworden.
Schuld daran war nicht ich, sondern nur der Unfall vor genau einhundertsiebenundvierzig Tagen. Danach hatte ich mein Studium abgebrochen und nicht weiter an irgendetwas gedacht, was mich beschäftigen könnte. Sogar mein liebstes Hobby, die Astronomie, hatte ich verwelken lassen. Ich kümmerte mich viel mehr um das Keyboard spielen, die Gitarre und den Bass. Alles Instrumente, die ich seit langem spiele und nicht einmal in der schlimmsten Situation aufgeben würde. Die Musik erhält mich immerhin am Leben, falls man das, was ich tue, überhaupt so nennen kann.
Nach draußen ging ich so wenig wie möglich, da meine Nachbarin für etwas Gegengeld alle Einkäufe für mich erledigte, wobei ich glaubte, dass sie sich so oder so etwas Trinkgeld schenkte. Wenn ich frische Luft brauchte, öffnete ich das Fenster und setzte mich auf die Fensterbank, um all die Leute zu beobachten, die täglich wie Ameisen in den Straßen auf und ab gingen. Vielleicht hatte mein Leben sogar mehr Sinn als das all der anderen, die sich hier in der Großstadt tummelten und einen festen Tagesablauf zu haben schienen. Frühstück, Zeitung lesen, arbeiten, Mittagessen, einkaufen, Abendessen, schlafen und dann das Gleiche wieder von vorn.
Unbewusst zuckte ich mit den Schultern, während ich mich langsam ganz von der roten Couch erhob und mich ausgiebig streckte.
Früher hatte es immer geheißen, ich sei intelligent, begabt und ziemlich außergewöhnlich. Ich spielte immerhin drei Instrumente, schrieb Bücher über die Philosophie, beschäftigte mich ausgiebig mit der Astronomie und war nicht selten der Klassenbeste. Ich war nicht die Art Streber, an die man bei diesen Aufzählungen sofort dachte, sondern mehr jemand, der unauffällig gut war.
Bei diesem Gedanke huschte ein seltenes Lächeln über meine Lippen. Etwas, was seit dem Unfall kaum noch mein Gesicht zierte. Es war ja nicht unbedingt so, dass ich im Selbstmitleid ertrank, mehr in der Trauer, die dieses Selbstmitleid füllte. Ein Sumpf aus Gedanken, Sorgen, Ängsten und Albträumen.
Vorerst hatte ich auch in die Klinik gemusst, doch war mein Körper nicht weiter verletzt gewesen als mit Blutergüssen und kleinen Schrammen. Doch als ich die schreckliche Nachricht über das Schicksal der anderen erfuhr, hatte sich ein spitzer Dolch in mein Herz gebohrt und all das kaputtgemacht, was nicht für andere sichtbar war. Seit dem habe ich nie wieder ein Wort über die Lippen gebracht, es einfach nicht mehr geschafft, vielleicht auch nicht gewollt.
Die Ärzte hatten immerhin nichts festgestellt, was mein Verstummen verursacht haben könnte, aber wie ich bereits sagte, gibt es auch unsichtbare Verletzungen, die ziemlich oft missachtet werden.
Mit trägen Händen zog ich die ebenfalls roten Gardinen auf und spähte in die Stadtluft hinein, die selbst an diesem Frühlingsmorgen kaum Sonnenlicht hindurch ließ. Ich öffnete das Fenster und torkelte dann durch den mit lauter Müll verdeckten Fußboden in Richtung Badezimmer. Ich wischte mit meinem Schlafanzugärmel über den verstaubten Spiegel und stützte mich dann mit meinen kläglichen Händen am Waschbeckenrand ab, um in das Gesicht zu blicken, was mich mittlerweile nicht mehr erschrecken konnte. Meine relativ kurzen, blonden Haare waren völlig zerzaust, während die dunklen Ränder unter meinen braunen Augen einen starken Kontrast zu der blassen, nahezu weißen Haut bildeten. Warum ich Schlafanzüge trug, war mir selbst nie wirklich bewusst geworden, doch irgendwie schien es an der Kälte unter der schmalen Decke meiner Couch zu liegen.
Wie so oft, hasste ich diesen Tag, hasste den Morgen und fragte mich gar nicht erst, warum ich mir überhaupt noch einen Wecker stellte.
Tja,
Weitere Kostenlose Bücher