Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
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Rani Händlerin drängte sich durch die Menschenmengen vor der Kathedrale und verschonte nur die staubigen Gewänder der Pilger mit ihren scharfen Ellenbogenstößen. Das Ankämpfen gegen die Menge verschaffte der Dreizehnjährigen die Gelegenheit, einen Teil des Zorns loszuwerden, der in ihren Adern pulsierte, und sie vergaß beinahe, den kostbaren Korb zu schützen, den sie über dem Arm trug.
Der Tag hatte viel zu früh damit begonnen, dass Cook ihr einen Becher Eiswasser ins verschlafene Gesicht spritzte und fluchte, sie solle ihre elenden Knochen in die Küche hinabbewegen. Während Rani auf den eiskalten Fliesen kauerte und Fasern getrockneter Baumwolle auf den nur sehr schwach glimmenden Kohlen verteilte, zitterte sie so sehr, dass ihre Zähne schmerzten. Dennoch gelang es ihr, einen Atemzug nach dem anderen zu tun und dem Feuer Leben einzuhauchen, das ihr Mitlehrling Larinda während der Nacht hatte herabbrennen lassen.
Natürlich durfte Rani nichts gegen Larinda sagen, selbst wenn Cook sie trat, weil sie die Flammen nur so langsam in Gang brachte. Lehrlinge mussten einander beistehen, gleichgültig welche Übergriffe von Gesellen, Meistern oder Dienstboten erfolgten.
Diese elende Morgendämmerung war nur der Vorbote eines schrecklichen Vormittags gewesen. Rani hatte Cook geholfen, den großen Kessel klebriges Porridge umzurühren, wobei sie ihren knurrenden Magen ignorierte, während sie das ungesunde Zeug für die Meister und Gesellen in Schalen füllte.
Selbst wenn das Essen schmackhaft gewesen wäre – Cook bereitete nie genug zu, um auch die Lehrlinge zu verköstigen.
Als Ranis Eltern sie in die renommierte Glasmalergilde einkauften, wäre es ihnen niemals in den Sinn gekommen zu bezweifeln, dass auch die Lehrlinge gut ernährt würden. Nun, es gab keine Nacht, in der Ranis Magen nicht vor Hunger knurrte. Selbst wenn Cook genug Essen für alle zubereitete, fiel es schwer, die Rationen hinunterzuschlucken, wenn man an die Mäuse dachte, die in der Vorratskammer umherwimmelten.
Rani erkannte, dass sie Demut lernte. Sie erkannte, dass sie Geduld lernte. Sie erkannte, dass sie blinden Gehorsam lernte, der den Weg zu den höchsten Ebenen des erwählten Handwerks pflasterte. Dennoch schien es ihr, wenn ihr Magen knurrte und die Sonne erst halb am Himmel aufgestiegen war, als würde sie nie den Rang einer Ausbilderin erreichen.
Nun, auf dem Platz der Kathedrale, trat ein Pilger einen Schritt zurück und bohrte seinen Lederabsatz in Ranis weichen Schuh, da er das Mädchen hinter sich nicht bemerkt hatte. Sie unterdrückte einen Schrei und fing ihren großen Korb ab, bevor er auf die Pflastersteine stürzte. Dennoch hörte sie Glas hart an Metall klingen und schickte ein rasches Gebet an die Tausend Götter, dass das Messer den Krug Zitronensaft nicht zerbrochen haben möge.
Als Rani an den herb-süßen Trunk dachte, schluckte sie schwer und verdrängte zum hundertsten Male den schimpflichen Gedanken, mit einer Hand heimlich in den Korb zu greifen und einen Happen der Schätze zu stibitzen, die Cook ihr zu Ausbilderin Morada zu bringen befohlen hatte. Rani hatte frisch gebackenes Kümmelbrot und eine fette Wurst bei sich, Letztere frisch aus der Räucherei. Sie hatte zugesehen, wie Cook ein halbes Dutzend kleine, saure Äpfel abzählte, und wäre fast in Ohnmacht gefallen, als sie aufgefordert wurde, eine dicke Scheibe fetten, sahnigen Käse abzuschneiden, um das Festmahl zu vervollständigen. Auch Mandel-Honig-Kekse wanderten in den Korb, und Rani konnte über die weniger verlockenden Gerüche der parfümierten und überhitzten Menge hinweg deren berauschendes Aroma riechen.
Sie würde die Gilde nicht entehren. Sie würde Ausbilderin Morada demütig und gehorsam dienen, selbst wenn sie vor Hunger schwach würde.
Während Rani einem Balg der Unberührbaren, das sie nicht vorbeilassen wollte, einen wohlgezielten Tritt verabreichte, gestattete sie sich ein engelsgleiches Lächeln und dachte verträumt an den Tag, an dem sie ihre Ausbilderschärpe erhalten würde. Ausbilder waren Glasmaler, die sowohl ihre Lehre als auch ihre Reisen vollendet hatten und zum Gildehaus zurückkehrten. Mit größter Wertschätzung behandelt, wurden sie tagtäglich von der Gilde hofiert und zum Bleiben verlockt, um ihr Wissen nichtswürdigen Wichten von Lehrlingen zu vermitteln, anstatt einträgliche Meisterwerkstätten zu errichten.
Ranis unmittelbare Sorge galt jedoch nicht ihrer Ausbildung, sondern der Aufgabe, sich
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