Das Weihnachtshaus
aller Eile zog ich meinen Badeanzug an und setzte mich wieder ans Fenster. Sobald Carlita kam, würde ich sie überreden, mit mir zum Pool zu gehen. Ich würde es schon irgendwie schaffen, daraus einen Vater-Tochter-Tauchwettbewerb zu machen. Wenn ich erst einmal dabei war, würde ich die beste Taucherin sein. Der Vater des Mädchens würde mich am lautesten anfeuern.
Dann sagte eine innere Stimme: Nein. Das wird niemals so sein.
Der Mann im Pool war ihr Vater. Er war nicht mein Vater. Immer würde er sie am lautesten anfeuern. Kein Vater würde das jemals für mich tun.
Mir wurde zum ersten Mal bewusst, was für ein Geschenk ein Vater war. Und dass ich kein solches Geschenk bekommen hatte.
Carlita kam schwer atmend die Treppe des Motels hoch, hastete ins Zimmer und entschuldigte sich keuchend, dass sie zu spät gekommen war.
«Ich will einen Vater», sagte ich.
Carlita gluckste. «Die meisten Mädchen in deinem Alter wollen ein Pony.»
«Ich will aber kein Pony, ich will einen Vater.» Ich stand auf, stützte meine Hände in die Hüften und schob wie meine Mutter das Kinn vor, damit Carlita wusste, dass ich es ernst meinte.
«Du hast einen Vater.» Sie setzte ihre kleine Tasche mit den Lebensmitteln ab.
«Hab ich nicht.»
«O doch. Jeder hat einen Vater. Jeder Mensch auf der Welt hat einen Vater. Einen Vater und eine Mutter. Man braucht beide, um auf die Welt zu kommen.»
Ich starrte sie an. In Carlitas Worten lag keine Magie, die lag nur in den Worten meine Mutter.
Erklärend fügte sie hinzu: «Das heißt aber nicht, dass jedes Kind mit Vater und Mutter zusammenlebt. Aber du hast beide. Jeder hat beide. Du hast einen Vater, Miranda.»
«Und wo ist er?» Meine Stimme klang nicht mehr ganz so trotzig.
«Dein Vater ist irgendwo. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er tot. Aber das spielt keine Rolle. Du hast eine Mutter, die dich liebt und die für dich sorgt. Du solltest dankbar sein. Und nun setz dich hin. Ich habe dir ein paar Kekse mitgebracht.»
Als meine Mutter in jener Nacht neben mir ins Bett schlüpfte, stellte ich mich schlafend. Sobald ihr Atem regelmäßig ging und ich wusste, dass sie schlief, drehte ich mich zu ihr um und flüsterte ihr zu: «Habe ich einen Vater?»
«Hmmm?»
Ich hatte oft gehört, wie sie Unterhaltungen im Schlaf weiterführte. Manchmal waren es Halbsätze aus dem Text ihrer Aufführungen. Manchmal drehte sie sich nach Menschen um und brüllte sie so heftig an, wie ich es von ihr nicht kannte. Ich wollte eine Antwort von ihr, solange ihre faszinierenden Augen geschlossen waren.
Ich wollte die Wahrheit wissen, und deshalb versuchte ich, ganz erwachsen zu klingen. «Eve Carson, Schauspielerin, hat Ihre Tochter Miranda einen Vater?»
Was dann über die Lippen meiner Mutter kam, war die übliche Litanei über das Mondlicht und über das Moos und über mich, die Wassermelone, die plötzlich herauskam.
Mit ihrer Antwort konnte ich leben. Auch nach sorgfältiger Prüfung konnte ich keine Veränderung in ihrer Geschichte feststellen. Ganz offensichtlich hatte ich keinen Vater. Carlita hatte unrecht. Sie konnte nicht alles über meine Mutter wissen, und das würde ich ihr erklären, wenn sie das nächste Mal kam.
Doch Carlita kam nicht wieder.
Stattdessen kam Angela, ihre Tochter, ein Teenager. Als sie auftauchte, hatte ich einen Splitter in meiner Handfläche entdeckt, doch alles Drücken und Kneifen half nicht, wir bekamen ihn nicht heraus. Angela fragte, ob wir Nähzeug hätten, weil sie mit einer Nadel versuchen wollte, den Splitter zu entfernen.
«Deine Mutter muss irgendwo ein kleines Nähzeug haben», meinte sie. «Jede Mutter hat so etwas. Schau in den Schubladen nach.»
Gehorsam ging ich unsere wenigen Habseligkeiten durch, und dabei entdeckte ich etwas. Das Futter am Boden des grünen Koffers von meiner Mutter war lose. Man konnte es herausnehmen. Unter dem Stoff sah ich zum ersten Mal die blaue Samttasche mit den goldenen Troddeln.
«Ist das Nähzeug?», fragte Angela.
«Weiß ich nicht.»
«Dann mach sie auf!»
Ich hob die Klappe der Tasche an. Der weiche Stoff war übergeschlagen wie bei einem Kuvert. Vorsichtig schüttete ich den Inhalt auf das Bett. Da lag ein zusammengefaltetes Programmheft von einer Aufführung von Shakespeares Der Sturm mit dem Namen meiner Mutter neben der Figur der «Miranda». Dann lagen da noch ein Zertifikat mit einem Prägestempel in einer Ecke und ein kleines Foto mit einem weinenden Jungen in einem schrecklichen grünen
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