Das weiße Grab
um sie vielleicht doch noch zu finden. Aber sosehr sie die Umgebung auch durchkämmten, es blieb ergebnislos, was man jetzt ja nachvollziehen kann. Sie kann hundert Meter von der DYE entfernt begraben worden sein, ohne dass sie auch nur die Spur einer Chance gehabt hätten, sie zu finden. Ich gehe davon aus, dass sie irgendwann offiziell für tot erklärt worden ist, aber das habe ich noch nicht bestätigt bekommen.«
»Wie weit war die Station von hier weg?«
»Das weiß ich leider nicht. Wir haben gestern ein paar Stunden nach Spuren der Station gesucht, aber nichts gefunden. Die Amerikaner können unglaublich effektiv sein, es ist also nicht sicher, ob wir den genauen Ort überhaupt finden, aber ich will das morgen noch einmal versuchen, mit ein paar mehr Leuten – wenn das für Sie in Ordnung ist.«
Letzteres war an Konrad Simonsen gerichtet.
»Natürlich, und lassen Sie mich hinzufügen, dass die Polizei in Nuuk wirklich gute Arbeit geleistet hat. Es ist fantastisch, was Sie in der Kürze der Zeit alles herausgefunden haben.«
Trond Egede nahm das Lob lächelnd entgegen. Dann blickte er auf die junge Frau und sagte ernst: »Ich habe im Laufe der Zeit eine ganze Reihe Morde gesehen, aber dieser hier lässt mich schaudern und macht mir Angst. Ich denke, Ihnen geht es auch nicht anders, das war doch sicher der Grund, weshalb Sie eben ein bisschen Zeit brauchten.«
Konrad Simonsen antwortete schwermütig: »Nein, das hatte leider andere Gründe, aber es ist jetzt wohl der richtige Zeitpunkt, um sie uns ein bisschen genauer anzuschauen. Arne, du bist der Jüngste von uns, kletterst du mal runter zu ihr? Kannst du mal ihre Nägel untersuchen? Wie sind die geschnitten?«
Die zwei anderen blickten unwillkürlich auf die Hände der Frau, als ihre Nägel zur Sprache kamen, aber von dort, wo sie standen, war nichts zu erkennen. Der Grönländer und Konrad Simonsen hielten Arne Pedersens Arme und bildeten ein Gegengewicht, damit er nach unten in das Grab der Frau klettern konnte. Er legte seinen Kopf neben ihre Schenkel – erst auf der einen, dann auf der anderen Seite –, bevor er Bericht erstattete: »Die hat sie nicht selber geschnitten, eine Frau würde das niemals so machen. Es sieht fast so aus, als wären die mit einer normalen Schere geschnitten worden, unregelmäßig und hastig. Wie konntest du das wissen? … Oh nein, Konrad.«
Auch der grönländische Kommissar hatte verstanden. Er starrte traurig vor sich auf das Eis. Trotzdem antwortete Konrad Simonsen: »Weil es leider schon das zweite Mal ist, dass ich eine junge Frau sehe, der man etwas derart Widerwärtiges angetan hat.«
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3
I n Kopenhagen war das Wetter unbeständig. Kurze, heftige Sommerschauer wechselten sich ab mit sonnigen Momenten, wodurch die Straßen schnell wieder trockneten und die Menschen ins Freie gelockt wurden, bis der nächste Schauer sie wieder zurück in ihre Häuser trieb. Die Ferien gingen ihrem Ende entgegen, aber noch immer waren ein paar Touristen in der Stadt, die sich durch ihr zielloses Schlendern und ihre etwas zu legere Kleidung von der Menge abhoben.
Konrad Simonsen sah aus dem Fenster seines Büros im Kopenhagener Polizeipräsidium und fragte sich ernsthaft, ob er jetzt auch noch Anzeichen einer Depression bei sich ausmachen konnte.
Es war inzwischen zwei Tage her, dass er auf dem grönländischen Inlandeis gestanden und die Leiche von Maryann Nygaard betrachtet hatte, und in diesen zwei Tagen war er nicht mehr er selbst gewesen. Zum ersten Mal in seiner langen Karriere bedrückte ihn ein Mord so sehr, dass er sich kaum noch auf dessen Aufklärung konzentrieren konnte. Er wusste ganz genau, dass seine Gemütslage in einem traurigen Zusammenhang mit einem anderen Mord stand, dessen Umstände nun erneut analysiert werden mussten. Eine Erkenntnis, die ihm aber auch nicht weiterhalf. Mühsam versuchte er sich einzureden, seine Reaktion sei ein Beweis für seine mentale Gesundheit, zeigte sie doch, dass er gefühlsmäßig noch nicht abgestumpft war. Aber das alles half nicht über die Tatsache hinweg, dass er seinen Schmerz nur mit Mühe weit genug eindämmen konnte, um seine tägliche Arbeit zu erledigen. Dazu kam noch seine angeschlagene Gesundheit, die er immer schlechter ignorieren konnte. In den letzten Tagen hatten seine Beine gekribbelt und gebrannt, so dass er am liebsten zu Hause geblieben wäre. Trotz des Verbotes hatte er weiter geraucht. Lediglich seine Diät hatte er einigermaßen eingehalten.
In
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