Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
Im Tropenland
Vor dem französischen College, der Mädchenschule zu Sao Paulo, hielten die Autos. Es war eine stattliche Reihe, eins hinter dem andern, die ganze mit wilden Feigenbäumen bestandene Straße hinab. Die Zöglinge des französischen College stammten alle aus den reichsten Familien der brasilianischen Stadt. Sie waren nicht gewohnt, zu Fuß den Schulweg zurückzulegen. Es war auch wirklich zu heiß dazu. Selbst die Chauffeure, alles Farbige, Neger und Mulatten in grellbunter Kleidung, die sonst ziemlich unempfindlich gegen die glühende Tropensonne waren, suchten heute den dürftigen Schatten auf, den die Bäume boten. Ein etwa vierzehnjähriger Negerjunge kletterte, unbekümmert um die sengenden Sonnenstrahlen, auf einen Feigenbaum, schwang sich geschickt von Ast zu Ast und saß nun, grinsend die weißen, starken Zähne zeigend, hoch oben in der verstaubten Blätterkrone.
»Nun, Homer, kannst du sehen, ob unsere jungen Damen bald kommen werden?« fragte ein älterer Mulatte.
Der mit »Homer« angeredete Junge schüttelte den Kopf.
»Ich sehe nicht Donna Anita, ich sehe nicht Donna Marietta. Nur ganz kleine Fräulein - so klein.« Er zeigte etwa die Größe eines Daumens. Homer konnte von seinem Auslug gerade in die unterste Klasse der Abc-Schützen hineinspähen. Die Hitze machte Lehrer und Schülerinnen matt und unlustig für jede geistige Anstrengung. Nur gut, daß heute, am 1. Dezember, die Hitzeferien begannen. Zwei Monate frei - wenn man daran dachte, empfand man den Druck der Tropenglut kaum noch.
Es waren etwa zwanzig junge Mädchen zwischen vierzehn und sechzehn Jahren in der ersten Klasse des französischen College versammelt, allen Nationen angehörend. Schwarze, braune und vereinzelt auch blonde Köpfe waren über Hefte und Bücher geneigt. Aber die dunkle Farbe des Haares, der Augen und des Hauttons herrschte bei weitem vor. »Eh bien - Mesdemoiselles, wir werden jetzt die Lecon schließen.« Monsieur sprach Französisch. Alle Unterrichtsfächer im College wurden in französischer Sprache erteilt. »Vergessen Sie in den Ferien nicht das Gelernte, repetieren Sie fleißig - Mademoiselle Anita, für Sie ist das ebenso gesagt, wie für die anderen Demoiselles.« Monsieur zog die Augenbrauen hoch und sah mißbilligend zu einer Ecke hin, in der man weder von ihm noch von seiner Rede Notiz zu nehmen schien.
Die mit »Mademoiselle Anita« Angeredete, ein großes, schönes Mädchen, bildete den Mittelpunkt des Privatzirkels, der bereits beim Ausmalen der bevorstehenden Sommerfreuden war. Dort wurde die halblaute Unterhaltung in portugiesischer Sprache geführt.
»Morgen schon geht es auf unsere Fazenda hinaus. Mama will keinen Tag länger hier in Sao Paulo schmoren. In Ribeiräo Preto ist es doch etwas luftiger als in der Stadt. Papa hat eine Überraschung für uns. Er will sie uns aber nicht verraten. Erst auf der Fazenda bekommen wir sie zu sehen. Ich kann die Zeit gar nicht erwarten. Was meinst du, wird es sein, Marietta? Das neue Reitpferd, das ich mir so brennend wünsche, oder ...«
»Monsieur ist ärgerlich, Anita, er sieht immerfort her«, flüsterte ihr Marietta zu.
»Pah - viel Vergnügen! Da hat er was Schönes zu sehen. Monsieur hat ja die Lecon bereits beendet«, lachte Anita unbekümmert die ängstliche Zwillingsschwester aus.
Marietta schaute beklommen den Lehrer an. Der hatte seine Bücher schweigend geschlossen. Er war es gewöhnt, daß die jungen Damen hier in Amerika recht viel eigenen Willen zeigten und ihn nicht immer den Wünschen des Lehrers unterordneten. Das war in Europa anders gewesen. Als er noch in Paris unterrichtete.
Monsieur begann sich mit seinem Tüchlein Kühlung zuzufächeln. Nicht nur wegen der glühenden Tropentemperatur, sondern der jungen Dinger wegen, die ihm mit ihrem stark ausgeprägten Selbstbewußtsein den Kopf warm machten. Allen voran Anita Tavares. Sie war zweifellos die Schönste von allen mit ihrem tiefschwarzen, weichen Haargelock und den dazu in merkwürdigem Gegensatz stehenden veilchenblauen Augen. Sprühend vor Lebendigkeit - ach, nur allzu lebendig. Die Schwester Marietta war aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Bescheiden und rücksichtsvoll, versuchte sie die Übergriffe ihrer Zwillingsschwester stets zu dämmen. Sie war der erklärte Liebling aller Lehrer. Ein Rätsel schien es, daß die beiden Zwillinge waren. Man konnte sich kaum zwei verschiedenere Menschen denken. Schon äußerlich. Die kleine zierliche Marietta reichte
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