Das weiße Grab
das war auch schon das Einzige, was Konrad Simonsen über ihn wusste.
Er fragte sich, ob er sich noch einmal ins Flugzeug setzen sollte, um ein klein wenig zu schlafen, bis die Kriminaltechniker fertig waren. Die harten, unbequemen Sitze, die er auf dem Flug von Nuuk hierher noch verflucht hatte, erschienen ihm jetzt wie die reinste Verlockung. Ein bisschen Schlaf war besser als überhaupt kein Schlaf, und schließlich machte es ja keinen Sinn, neben einem stummen Kollegen zu stehen und auf vier Menschen zu starren, die deshalb auch nicht schneller arbeiteten. Andererseits konnte es seinen wortkargen Partner verletzen, wenn er ihn einfach stehen ließ, und das wollte er nicht, schließlich war es für die nächsten Wochen essenziell, dass die Zusammenarbeit mit der Polizei in Nuuk gut und reibungslos vonstattenging. Oder sollte er sich entgegen den Vorschriften den Technikern anschließen? Die Gefahr, den Tatort zu verunreinigen, war sicher nicht groß. Andererseits riskierte er dann, abgewiesen zu werden, was nicht nur erniedrigend sein würde, sondern überdies ein unprofessionelles Signal aussandte. Nein, im Grunde hatte er nur eine Möglichkeit – er musste bleiben, wo er war, wie ernüchternd das auch sein mochte.
Also versuchte er noch einmal, ein Gespräch vom Zaun zu brechen.
»Wie können Sie eigentlich an der Sonne erkennen, dass es drei Uhr ist? Ich meine, Sie haben doch keinerlei Landmarken – oder wie man das nennt –, hier ist es doch so flach, dass sich der Horizont einmal um uns herumzieht.«
Umständlich zog der Mann einen Handschuh aus und schob den Ärmel seiner Windjacke über seine Armbanduhr. Erst als er den Handschuh wieder angezogen hatte, sagte er: »Es ist dreizehn Minuten nach drei.«
»Dann hatten Sie also recht.«
»Ja.«
»Nur anhand der Sonne. Ohne irgendeinen Anhaltspunkt?«
»Ja.«
Konrad Simonsen gab es auf und konzentrierte sich darauf, seine eigene Uhr richtig zu stellen. So hatte er wenigstens für ein paar Sekunden etwas zu tun. Auf einmal kam ihm ein unangenehmer Verdacht, eine Skepsis, die an ihm nagte und ihn wie die Unruhe zuvor nicht mehr losließ.
»Also drei Uhr nachmittags?«
Er versuchte seine Frage möglichst beiläufig zu stellen. Trotzdem hörte er selbst, wie angespannt und schrill seine Stimme klang.
Der Grönländer drehte sich zu ihm um und musterte ihn, als er antwortete: »Ja, nachmittags. Haben Sie denn kein Zeitgefühl?«
»Eigentlich schon, aber …, doch Sie haben recht, einen Moment lang war ich verwirrt.«
»Das kann ziemlich unangenehm sein.«
Konrad Simonsen nickte und entspannte sich. Mühevoll kramte er seine Zigaretten hervor, verdrängte all die Warnungen und guten Ratschläge, zündete sich eine an und inhalierte begierig.
Dann fügte er sich der erneuten Stille. Als er zu Ende geraucht hatte, beugte er sich nach unten und drückte die Zigarette sorgsam auf dem Eis aus, bevor er sie in die Tasche steckte. Der Grönländer betrachtete ihn interessiert, und Simonsen versuchte sich erneut an einem Gespräch: »Sagen Sie mal, kommen Sie öfter hierher?«
Der Mann grinste, und sein Gesicht presste sich derart zusammen, dass er wie ein ungezogenes Trollbalg aussah. Konrad Simonsen musste unweigerlich lächeln.
»Das hat dieser Arne auch geglaubt, also Ihr Partner. Ich habe seinen Nachnamen vergessen.«
Er nickte in Richtung Flugzeug.
»Arne Pedersen, er heißt Arne Pedersen.«
»Stimmt, ja. Der dachte auch, dass ich regelmäßig hier aufs Inlandeis komme. Vierhundert Kilometer Anfahrt, um hier eine kleine Runde zu drehen und dann mit frischen roten Bäckchen wieder nach Hause zu kommen.«
Die Ironie des Mannes war nicht bissig, sondern hatte einen munteren Beiklang.
»Okay, ich habe verstanden, dann waren Sie auch noch nicht hier.«
»So ganz stimmt das nicht, ich war ja gestern schon mal hier, aber ansonsten ist das nicht gerade ein Ort, den ich häufiger aufsuche. Warum auch?«
Sie nickten beide, und für einen Augenblick fürchtete Konrad Simonsen, das Gespräch könne erneut versiegen. Dann sagte der Mann: »Arne Pedersen hat gesagt, dass Sie nicht über den Fall sprechen wollen, bevor Sie nicht einen Blick auf das Opfer geworfen haben; das sei so eine Art Prinzip von Ihnen.«
»Ein Prinzip würde ich das nicht gerade nennen, das geht vielleicht zu weit. Aber es stimmt, ich warte lieber, wenn das für Sie in Ordnung ist? Andererseits gibt es natürlich ein paar Punkte, die wir gerne jetzt schon ansprechen können. Es ist
Weitere Kostenlose Bücher