Das weiße Grab
ja kein Geheimnis, dass ich diesen Fall ziemlich abrupt und ohne jede Vorwarnung übernehmen musste.«
Der Mann unterbrach ihn lachend: »Ja, das habe ich gehört. Arne Pedersen sagte, Sie seien auf dem Weg in die Ferien gewesen? In südlichere Gefilde.«
Er lachte wieder.
Konrad Simonsen konnte ihn immer besser leiden.
»Herzlichen Dank für die Erinnerung, aber es stimmt, eigentlich sollte ich jetzt auf dem Weg nach Punta Cama sein – das ist in der Dominikanischen Republik, sollten Sie sich da unten nicht so gut auskennen. Ich wollte mit meiner Freundin am Strand liegen und unter den Palmen ausspannen, bis uns die
Legend of the Seas
von der Royal Caribbean Cruise Line abholt und … ach, an den Rest will ich gar nicht denken, das tut zu weh.«
»Gern geschehen, war mir eine Freude.«
»Ich weiß nicht, irgendwie hatte bislang niemand richtig Zeit, mir zu sagen, was gestern eigentlich passiert ist. Vielleicht wusste es ja auch keiner, aber ist die Tote wirklich von der deutschen Kanzlerin gefunden worden?«
»Nein, nicht ganz. Als Erster gesehen hat sie ein Gletscherexperte, ein Glaziologe, aber der hat die Kanzlerin dann auf die Leiche aufmerksam gemacht.«
»Waren Sie auch im Flugzeug, als das passiert ist?«
»Nein, aber ich kenne den Handlungsablauf von jemandem, der mit an Bord war. Im Übrigen war das ein Helikopter. Genauer gesagt, einer von drei großen Sikorsky S 61 der Air Greenland. Sie wissen schon, diese legendären roten Riesen, die man auch als Sea King bezeichnet.«
Konrad Simonsen hatte keine Ahnung, wovon der Mann redete, log aber aus Höflichkeit: »Ja, die sind wirklich beeindruckend.«
»Genau meine Meinung. Also, da war eine Maschine mit der Kanzlerin, der dänischen Umweltministerin und den wichtigsten Delegationsteilnehmern, eine andere mit dem Sicherheitspersonal und den anderen Gästen und eine dritte mit Journalisten. Der Helikopter der Kanzlerin flog voran. Die Route führte in einem Bogen von Ilulissat an der Diskobucht über das Inlandeis bis nach Nuuk, von wo aus die Delegationen wieder zurück nach Kopenhagen respektive Berlin fliegen wollten. Die Kanzlerin hatte darauf bestanden, bis ganz zum Zentrum des Inlandeises zu fliegen, vielleicht war sie irrtümlich davon ausgegangen, die Abschmelzungen seien dort am größten. Aber da dieser Wunsch von ihr gekommen war, hatte niemand widersprochen.«
»Was gibt es denn da zu sehen?«
»Eigentlich nichts von Bedeutung. Wenn man die ersten Schmelzwasserteiche gesehen hat, und davon sieht man schon nach zwei Minuten Flug auf dem Ilulissatgletscher einige, kann man sich die restlichen eigentlich sparen. Außerdem werden die immer seltener, je weiter man auf das Inlandeis kommt, und wie Sie selber sehen, ist hier außer Eis nicht viel zu entdecken.«
Konrad Simonsen antwortete ihm diplomatisch: »Es ist faszinierend hier, wenn auch etwas eintönig.«
»Tja, das kann man ruhig sagen. Trotzdem fand die Kanzlerin den Flug äußerst interessant, und der Glaziologe natürlich auch. Er hat die ganze Zeit über neben ihr gesessen und eine Art Vorlesung für sie gehalten. Zum Missfallen unserer Umweltministerin.«
»Interessiert sie sich nicht für das Inlandeis?«
»Nee, die wollte über Politik reden. Es waren auch noch zwei andere Politiker dabei. Mit einem habe ich gesprochen, und der hat mir erzählt, dass sie sich im Stillen über sie amüsiert haben. Es hatte wirklich niemand damit gerechnet, dass die Kanzlerin derart in ihrer Rolle als Studentin aufgehen würde. Vor gar nicht langer Zeit hatte die Umweltministerin Besuch aus den USA . Ein paar Senatoren oder so, die mit der gleichen Absicht gekommen waren, doch damals war das komplett anders abgelaufen. Die Amerikaner sahen in der Exkursion eher so etwas wie einen Rundflug, und einer von ihnen hat sich sogar zu der Frage erdreistet, ob er nicht ein Ren schießen könnte. Vielleicht war das nur so dahergesagt, auf jeden Fall hat die lokale Presse wütend protestiert. Von denen wollte jedenfalls keiner länger über das Inlandeis fliegen als unbedingt nötig.«
Konrad Simonsen brachte ihn wieder auf die richtige Spur: »Die Kanzlerin wollte das aber.«
»Ja, wie gesagt. Der Helikopter ist so tief wie möglich geflogen, und natürlich waren alle mit Ferngläsern ausgerüstet. Nach einer halben Stunde haben davon aber nur noch der Glaziologe und die Kanzlerin Gebrauch gemacht. Laut meiner Quelle haben die Dänen geschlafen, während die anderen Deutschen mit ihren Computern
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