Das weisse Kaenguruh
Beziehung zu väterlicher Zufriedenheit, und – mit einem Ausrufungszeichen – Bravsein ist immer beziehungsweise. Thomas brauchte keine Aufsicht. Er erledigte die schulischen Pflichten mit stoischer Gelassenheit und einem Pflichtbewußtsein, das jeden und angenehm überraschte. Billy dagegen überraschte niemanden. Er war halt eine faule Sau. Von Geburt an. So was kommt vor.
»Ab zur Oma«, hieß die Parole, die seine Mutter daherim Schulterschluß mit seiner Klassenlehrerin ausgab. Bereits nach der ersten Halbzeit der zweiten Grundschulklasse stand für alle Beteiligten fest, daß sich Freundchen Billy anscheinend lieber durchs Leben treiben ließ, anstatt die Augen aufzumachen und endlich den Daumen des Träumers aus dem Mund zu nehmen. So wurde er fortan zweimal die Woche nach der Penne für ein paar Stunden zur Oma geschickt. Schülerhilfe Taubengasse, guten Tag! Und wer hätte es ihm verdenken wollen, daß er diese Nachmittage liebte. Allein die Griesschnitten, in feinstem Butterschmalz herausgebraten und mit einer vollendeten Zimt&Zucker-Mischung bestreut, die seine Oma in unregelmäßigen, aber zum Glück kurzen Intervallen auf seinen Mittagsteller schaufelte, überzeugten nachhaltig. Da machte es auch nichts, daß es dazu kein Apfel
mus
gab, sondern nur
Apfel kompott
, also mit Stückchen drin, denen man zudem mit Vorsicht begegnen mußte, weil Oma Elisabeth, mit schlechten Augen gestraft, immer wieder Teile von Kerngehäuse übersah, wenn sie die Äpfel aus ihrem Garten vor dem Einkochen kleinschnitt.
Ansonsten aber fühlte sich Billy bei seiner Großmutter so wohl wie ein Hund, der sich im Schnee wälzt. »Du machst deine Hausaufgaben, ich mache mein Schläfchen, und wenn wir beide fertig sind, dann fahren wir in Ferien.« Das war der Deal zwischen den beiden, und so wurde es auch gemacht. Von Anfang an, zweimal die Woche und beschlossen ohne Gegenstimme. Einfach, weil es ein fairer Handel war. Nach dem Mittagessen verzog sich Oma Elisabeth auf ihr Sofa und ratzte, während Billy am Küchentisch sitzenblieb und büffelte. Und wenn er alle Aufgaben gelöst hatte, weckte er seine Oma auf, ging mit ihr sein Tagwerk durch und besserte mit ihrer Hilfe die Schwachstellen aus. Das alles erledigte er zwar mit geringem Eifer und fehlender Weitsicht, aber trotzdem gerne, weil es sich lohnte. Denn erst, wenn ihr Ritual mit einem Teilchen vom Bäcker und einem Becher Milch (mit einemSchuß echtem Kaffee drin!) endete, ertönte das Signal, und die versprochene Reise konnte beginnen.
»Fingerferien« nannte seine Oma, was sie sich für ihn ausgedacht hatte. Sie setzten sich nebeneinander – möglichst auf die Stufen am Wasserloch; wenn es zu kalt war, gerne auch vor den Kachelofen in der Stube –, legten einen alten Atlas auf ihre Knie und überlegten, wohin die Reise gehen sollte. Und dann fuhren sie mit dem Finger los. Am Anfang nur durch Deutschland, dann zu den Freunden ins benachbarte Ausland, schließlich über die Grenzen Europas hinaus und hinein bis in die letzten Winkel der Welt. Es gab keine Grenzen. Und es war keine Frage, ob Billy wirklich überall dort gewesen war, wo ihn seine Oma mit ihren Geschichten hingeführt hatte. Sie konnte sehr anschaulich werden, wenn sie erzählte.
Billy hatte plötzlich eine spannende Kindheit. Einige Jahre lang. Bis seine Oma starb. Auf einmal, unerwartet und für ihn nicht zu begreifen. Sie starb allein, in ihrem Auto und auf einer Fahrt nach Rom. Sie liebte Italien. Es war ihre letzte Reise gewesen. Billy vermißte sie. Er vermißte alles an ihr. Sie war der beste Kumpel, den er je hatte. Sie behandelte ihn wie ein Kind, aber nicht wie einen Idioten. Sie war komisch. Sie war cool. Sie konnte so köstliche Sachen kochen. Oma Elisabeth war der leuchtende Stern in seiner Familie, und sie war der einzige. Sie war seine Lehrerin, und wenn er sich fallen ließ, bekam er eine eins. Er ließ sich gerne fallen bei ihr. Sie hatten viel Zeit miteinander verbracht. Fünf verrückte Jahre lang. Bis sie gegen einen Baum fuhr. Sie hatte ihn nicht gesehen. Ihre Augen waren schuld. Ihre verdammten Augen! Die Zeit mit ihr war einfach zu schön gewesen.
Bella Italia.
Als Billy erfuhr, daß er in jenem Sommer mit seiner Oma den ersten wirklichen Urlaub unternehmen würde, da freute ersich ein zweites Loch in den Arsch, damit die Sonne in seinem Herzen besser hinausscheinen konnte. Er war zwar schon Tausende von Meilen mit ihr durch die Weltgeschichte gefahren, aber bisher immer nur
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