Das Wetter vor 15 Jahren
Vielleicht war sie auch immer noch sauer wegen dem Blut auf ihrer Wange. Jedenfalls sagt sie, sie hört und sie spürt nichts. Dabei schaut sie nachdenklich zum blauen Himmel hinauf, als würde sie lauschen.
Literaturbeilage Es war immer noch blauer Himmel?
Wolf Haas Nicht eine Wolke am Himmel! Es war ja erst Mittag. Das war ja das Irre an dieser drückenden Schwüle und an diesem Insektenüberfall. Normalerweise tritt das in den Alpen frühestens am Nachmittag auf.
Literaturbeilage Ging es Ihnen da auch darum, eine Art High-Noon-Stimmung zu vermitteln?
Wolf Haas Es war einfach genau Mittag. Das weiß ich aus einem ganz einfachen Grund: Herr Kowalski hat mir erzählt, dass sie die Mittagsglocken der Dorfkirche unüblich laut bis zur ersten Bank hinauf gehört haben. Das ist insofern ein wichtiges Detail, als -
Literaturbeilage - weil es damit unwahrscheinlich ist, dass die Windrichtung von der Stromautobahn zu ihnen verlief.
Wolf Haas Genau. Entweder das, oder der Wind hat sich dann extrem schnell gedreht. Jedenfalls war es exakt zwölf Uhr, Hochsommer, blauer Himmel, kein Schatten. Und als die Mittagsglocken verklungen sind, ist das Surren der Insekten wieder in der Luft, noch lauter als vorher, und hinter dem Surren der Insekten das Surren der Stromautobahn.
Literaturbeilage Das Anni nach wie vor bestreitet.
Wolf Haas Das übliche Hickhack eben. Vittorio sagt wieder, er hört die Stromautobahn, und Anni sagt wieder, gar nichts hört man, nicht bei der ersten Bank! Und Vittorio sagt noch einmal, er spürt sie, und Anni sagt, man hört nichts und man spürt nichts. Und sie schaut zum blauen Himmel hinauf und sagt -
Literaturbeilage - mit diesem forschenden Blick, der ja schon früher in Ihrem Buch immer wieder eine Rolle spielt -
Wolf Haas Mit diesem blöden Einheimischenblick eben. Mit dem die Dorfbewohner ihre Wetterprognosen für die Touristen begleiten.
Literaturbeilage Wie wir es von Annis Vater, dem Bergrettungsmann, kennen, wenn Kowalski senior sich erkundigte, ob das Wetter für seine morgige Bergtour halten wird.
Wolf Haas Ja genau. Und jetzt schaut seine fünfzehnjährige Tochter mit diesem Blick zum blauen Himmel hinauf und sagt mit dem Ernst der Erfahrenen: „Ein Wetter kommt."
Literaturbeilage Man glaubt an dieser Stelle ja würklich, dass sie es nur sagt, um sich aufzuspielen. Um als einheimisches Mädchen Vittorio die Schwäche seiner Position spüren zu lassen.
Wolf Haas Das freut mich, wenn das so rüberkommt. Man ist an dieser Stelle eben mehr auf Vittorios Seite, dem die ganze Situation zu viel wird. Er ist ja nicht nur der Fremde, der „Gästebub", er ist auch gleich alt wie sie, also in diesem Alter entwicklungsbedingt sozusagen der Jüngere, der doppelt Unterlegene. Dann hat sie ihn gerade erst fertig gemacht wegen der Blutwatschn. Und jetzt schaut Anni mit diesem Einheimischenblick zum blauen Himmel hinauf und sagt wie zum Hohn: Ein Wetter kommt.
Literaturbeilage Eigentlich wäre das doch erst recht ein Grund, dass sie ins Dorf zurückgehen. Die Gefährlichkeit der Alpengewitter für die Bergsteiger betonen Sie im Buch ja immer wieder. Müssten Sie übrigens nicht unbedingt so betonen, das wissen auch wir Flachland-piefkes.
Wolf Haas Um Bergsteiger in dem Sinn handelt es sich bei den beiden zwar nicht. Sie sind nur eine Viertelstunde oder so vom Dorf entfernt. Aber trotzdem. Ein Gewitter in freier Natur ist nie lustig. Da kann auch die Gehdistanz einer Viertelstunde reichen, und man ist trotzdem plötzlich von der Zivilisation abgeschnitten.
Literaturbeilage Die beiden kehren aber nicht um. Sondern gehen erst recht Richtung Stromautobahn weiter. Trotz Surren und trotz Annis Gewitterprognose.
Wolf Haas Ja. Sie gehen zur zweiten Bank hinauf. Erste Bank, zweite Bank, dritte Bank. Das sind die Stationen vor der Stromautobahn.
Literaturbeilage Vittorio zählt das ja auch immer so auf. Erste Bank, zweite Bank, dritte Bank. Ich frag mich, ob er diesen Zählzwang von Ihnen hat oder Sie von ihm.
Wolf Haas In dem Fall ist es nur so wichtig, weil die beiden meistens nur bis zur ersten Bank gegangen sind. Das war ihr Wohnzimmer sozusagen. Genau richtig weit entfernt von der Elternwelt. Vom Dorf aus nicht mehr einsehbar und doch noch nicht zu weit weg. Und nur ganz selten sind sie den steilen Weg bis zur zweiten Bank hinauf. Die lag ja schon im Surr-Sperrgebiet.
Literaturbeilage Und dieses Mal gehen sie nicht nur zur zweiten, sondern sogar bis zur dritten Bank.
Wolf Haas Ja, zum
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