Das Wetter vor 15 Jahren
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Literaturbeilage Ja, das ist auch alles schön und gut, aber es ist doch auch eine Frage der -
Wolf Haas - der Too-much-heit.
Literaturbeilage Ürgendwie schon, ja.
Wolf Haas Vor allem fasziniert mich an diesem Anzählen gegen das Gewitter, dass es ein Versuch ist, die Angst zu rationalisieren. Das Gewitter auf Abstand zu halten durch Sekundenzählen. Man hat es irgendwie in der Hand, solange man sich zumindest ausrechnen kann, in welchem Tempo die Bedrohung näher rückt.
Literaturbeilage Es ist allerdings eine Illusion. Man hat die Bedrohung deshalb ja keineswegs in der Hand. Wolf Haas Nur wenn man mit den Fingern zählt.
Literaturbeilage Wir befinden uns in der kalauerfreien Zone!
Wolf Haas Ich meine einfach das Kontrollbedürfnis.
Literaturbeilage Das Kontrollbedürfnis, das sich im Zählen ausdrückt, ist schon klar. Aber Sie erklären hoch mathematisch, wieso drei Sekunden, die zwischen Blitz und Donner vergehen, genau eine Distanz des Gewitters von tausendvierzig Metern bedeuten.
Wolf Haas Ja. Tausendzwanzig.
Literaturbeilage Tausendzwanzig. Sehen Sie, jetzt wäre ich schon wieder zu nahe an den Blitz rangegangen!
Wolf Haas Na ja, hoch mathematisch ist das noch nicht gerade. Ich bin auch kein großer Mathematiker, aber mir fällt auf, dass die Leute, sobald irgendwas mit Zahlen vorkommt, sofort aufschreien, es sei „hoch" mathematisch. Normal mathematisch gibt's offenbar gar nicht. Einfaches Rechnen schon gar nicht! Dabei schreib ich doch nur, warum man den Abstand eines Gewitters durch Sekundenzählen feststellen kann. Das hat doch nichts mit Mathematik oder so zu tun.
Literaturbeilage Das ist noch keine höhere Mathematik, da muss ich Ihnen Recht geben. Mitten in einer Liebesgeschichte würkt das dauernde Berechnen aber doch etwas schroff.
Wolf Haas Es geht mir um die Angst, in der die Leute anfangen, die Entfernung der Blitze auszurechnen. Die Berechnung ist so einfach, weil eben der Schall 340 Meter pro Sekunde zurücklegt. Das Licht übrigens dreihundert Millionen Meter. Das hab ich gar nicht geschrieben. Das Licht ist sozusagen gleich da.
Literaturbeilage Sie haben es für uns WetterNormalverbraucherinnen vereinfacht.
Wolf Haas Und der Schall schleicht eben mit 340 Metern pro Sekunde hinterher, also wenn er zum Beispiel sechs Sekunden braucht, dann ist der Blitz noch 2040 Meter entfernt.
Literaturbeilage Jetzt fangen Sie schon wieder damit an.
Wolf Haas Die Stelle gefällt Ihnen nicht.
Literaturbeilage Ich wollte hier beim Lesen einfach schneller vorankommen. Man hat ja Angst um die beiden! Sie beschreiben das Näherkommen des Gewitters über Seiten hinweg. Wie Anni und Vittorio immer wieder die Sekunden zwischen dem Blitz und dem anfangs noch fernen Donner zählen: Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.
Wolf Haas Vierundzwanzig, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, acht -
Literaturbeilage Anfangs ist das noch beeindruckend und ürgendwie spannend vielleicht. Aber. Sie schreiben zwar, das Gewitter sei rasend schnell näher gekommen, doch indem Sie jeden einzelnen Meter sozusagen runterzählen, kriegt man beim Lesen eher den Eindruck, dass es ganz langsam heranschleicht.
Wolf Haas Ehrlich gesagt hat mir der Lektor da sogar einige Seiten weggestrichen. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig, das sind für mich sehr verlockende Texte.
Literaturbeilage Das merkt man.
Wolf Haas Aber es ist ja nicht nur meine Vorliebe für -
Literaturbeilage - fürs Zählen -
Wolf Haas Haha, für bedeutungsfreie Textpassagen. Mein Gott, die Leute fahren mit dem Motorrad wochenlang durch die Wüste, das versteht jeder. Da geben sie noch Geld dafür aus! Aber ein paar Buchseiten mit einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, da wird man gleich für wahnsinnig erklärt.
Literaturbeilage Sie sagten, es sei nicht nur Ihr Hang zu bedeutungsfreien Textpassagen. Sondern?
Wolf Haas Sondern es wird doch auch eine Spannung aufgebaut. Die beiden zählen bis neun, also neunundzwanzig, dann nur noch achtundzwanzig, dann siebenundzwanzig - das Wetter rückt näher -, dann sechsundzwanzig.
Literaturbeilage Dann zur Abwechslung wieder achtundzwanzig.
Wolf Haas Na ja, so absolut linear läuft das natürlich nicht in der Natur. Das Wetter kommt näher, entfernt sich wieder, kommt wieder näher. Wie es die Katze mit der Maus macht. Und dann, zack!
Literaturbeilage Aber Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, dass Sie ein Autor sind, der auf eine
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