Das Wetter vor 15 Jahren
Backenknochen."
Wolf Haas Ja und?
Literaturbeilage Dann sagt Ihr Erzähler zum ersten Mal „Ich". Wolf Haas Aha.
Literaturbeilage Und zwar, um im zweiten Satz die Präzisierung vorzunehmen: „Genauer gesagt beziehe ich mich auf die linke Gesichtshälfte. Auf den äußeren Winkel des linken Auges. Geht man von hier einen Zentimeter nach unten, kommt man zum linken Backenknochen."
Wolf Haas Und jetzt kommt's aber! Da hat Anni ihn hingeküsst!
Literaturbeilage Noch nicht ganz, man muss erst noch einen Zentimeter weitergehen. Er sagt: „Und dann in gerader Linie weiter, noch einen Zentimeter. Dort hat Anni mich hingeküsst."
Wolf Haas Ich verstehe natürlich schon, wie die Leute darauf kommen, zu sagen, sein Charakter, akribisch und pedantisch. Wenn einer einen Kuss so geometrisch beschreibt, in gerader Linie und so weiter. Aber er sagt ja auch: Ich spüre ihn noch genau. Die Stelle ist so wichtig, weil er den Kuss da noch spürt! Nach Stunden! Er hat fünfzehn Jahre auf diesen Kuss hingearbeitet. Und jetzt ist es schon wieder ein paar Stunden her, dass Anni sich von ihm verabschiedet hat. Also nur bis morgen verabschiedet, aber das weiß man ja als Leser an der Stelle noch nicht. Man weiß jetzt einmal nur, dass sie weg ist. Aber der Kuss ist noch da!
Literaturbeilage Man weiß nur, dass sie „Pfürti" gesagt hat.
Wolf Haas Ja, sie hat „Pfiati" gesagt und ihm den Kuss auf die Wange gegeben. Und jetzt, wo er schon wieder ein paar Stunden allein ist, spürt er den Kuss immer noch. Er brennt auf der Wange.
Literaturbeilage Zwei Zentimeter unter dem linken Auge.
Wolf Haas Aber er hat panische Angst, dass der Kuss, nachdem er fünfzehn Jahre darauf gewartet hat, wieder verblassen oder gar verschwinden könnte. Er will, dass es anhält, darum versucht er, das Gefühl zu sichern. Er braucht diese exakte Beschreibung, also einen Zentimeter in gerader Linie, um sich selbst zu versichern, wo genau er ihn spürt. Das ersetzt ja nicht das Gefühl, sondern er will eben den Kuss beschützen sozusagen.
Literaturbeilage Bis er Anni morgen wieder sieht.
Wolf Haas Versprochen hat sie es jedenfalls. Morgen komme ich wieder, hat sie gesagt nach dem Kuss. Er wagt es kaum, sich zu bewegen, weil er Angst hat, dass er bei einer unachtsamen Bewegung den Kuss verliert.
Literaturbeilage He is making the most of it.
Wolf Haas So sehe ich das eigentlich. Nur darum beschreibt er den Vorgang ja auch so, wie dann immer betont wurde, „akribisch".
Literaturbeilage Weil Anni sonst nichts mit ihm gemacht hat.
Wolf Haas So kann man das nicht sagen. Also jetzt sind Sie technokratisch.
Literaturbeilage Wieso ich?
Wolf Haas Wenn Sie da „etwas machen" sagen. Das klingt ja fast ein bisschen pornografisch. „Machen wir was" und so. Sehen Sie, wenn die beiden „etwas machen" würden, dann wäre er nicht verklemmt und pedantisch, aber über Nacht einen Kuss konservieren, damit der nicht gleich wieder weggeht, damit der Kuss da bleibt, wo sie ihn raufgegeben hat, das ist dann gleich „akribischer Charakter" oder so.
Literaturbeilage Jetzt drehen Sie mir aber das Wort im Mund um. Dieses „etwas machen" war doch nicht ür-gendwie pornografisch oder so gemeint.
Wolf Haas Es stimmt natürlich, sie hat ja wirklich nicht viel gemacht. Kuss auf die Wange und ciao. Bevor sie gegangen ist, hat sie ihm allerdings noch mit einem verlegenen Lächeln den Lippenstift weggewischt.
Literaturbeilage „Drei sehr schnelle Wischbewegungen von außen nach innen, also von Ohr nach Nase, parallel zur gedachten Verlängerung meiner linken Augenbraue", erzählt uns Herr Kowalski. Wolf Haas Aber er betont, dass sie damit nicht den Kuss weggewischt hat, sondern nur den Lippenstift.
Literaturbeilage Den Kuss habe sie sogar einmassiert.
Wolf Haas (lacht) Ja, das ist eigentlich meine Lieblingsstelle im ganzen Buch. Dieses Lippenstiftwegge-wischtkriegen, das hat schon was. Das kennt man als Mann so gut. Das hat schon was sehr sehr - Ambivalentes. Diese Mischung aus Zärtlichkeit und Herablassung.
Literaturbeilage Da bin ich ja richtig froh, dass ich keinen Lippenstift trage. Er sagt auch noch: Schnelle Wischbewegungen, das klinge fast aggressiv.
Wolf Haas Diesen Verdacht äußert er aber nur, um ihn sofort zu entkräften und von sich zu weisen. Annis Geste sei das Gegenteil von aggressiv gewesen.
Literaturbeilage Er sagt: „Bei der schnellen Wischbewegung kommt es immer auf das Wie an! Und es kommt immer auf das Wer an! Und es kommt immer auf das
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